Hallo! Sie sind auf den Seiten eines digitalen Arbeitstagebuchs gelandet. Hier finden Sie Bilder und Momente aus dem Alltag einer Dolmetscherin in Pandemiezeiten. Meine Sprachen sind Französisch, Englisch und natürlich auch Deutsch, meine Muttersprache.
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Kopf, nicht von Pappe |
Es gibt Tage, da erinnere ich mich gerne an meine Kunden. Und dann gibt es solche, Kunden, nicht Tage, die würde ich lieber heute als morgen vergessen. Wie diese französischsprachige Kleinfamilie, die schwer zur
Boboisierung (s.u.) Berlins mit ihren schlechtesten Ausprägungen beigetragen hat. Einige Male durfte ich die Leute zu Ämtern begleiten, zur Einschulungsuntersuchung der Tochter und zu Gericht. Die Familie schien immer klamm, so zumindest bei der Honorarverhandlung. Ansonsten hat sie auf großem Fuße gelebt. Und eine Überweisung meiner Honorarnote konnte schon mal Monate in Anspruch nehmen.
Eines Tages bekam ich eine Mail. Ich wartete gerade wieder auf eine Überweisung.
Ob ich nicht vielleicht das schöne Designersofa übernehmen wolle statt der Bezahlung, Foto im Anhang, wurde ich gefragt. Der Designer ist namhaft, weltweit, die Möbel gelten als elegant, ich finde sie aber ebenso unbequem wie unpraktisch. Hier folgt kein Markenname, kein Bild. Der Ärger muss nicht noch größer werden.
Mit einer zweiten Mail, versendet an eine größere, anonyme Gruppe, erreichte mich eine Wohnungsanzeige. Man werde aus beruflichen Gründen Berlin verlassen, ziehe nach London. Die schöne neue Wohnung am Gleisdreieck sei jetzt frei, 180-Grad-Blick auf den Park und Richtung Potsdamer Platz würden hier geboten, 120 Quadratmeter für 3100 Euro warm, mit Kamin und zwei Tiefgaragestellplätzen, nur 15 Minuten Fußweg zur französischen Grundschule Voltaire. Ich ahne, in welchem Neubaubereich die résidence tant aimée liegt, das "so sehr geliebte Anwesen".
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Kein Holzkopf |
Idéal pour une famille d'expats, steht da noch, ideal für eine Familie von Expats,
expatriés, außerhalb der Heimat lebende und arbeitende Menschen, die (eigentlich englische) Exklusivform des Wortes "Gastarbeiter".
Der Familienvater war nicht politisch-diplomatisch tätig, wie manche unserer Privatkunden, sondern für ein deutsches Großunternehmen, das französisches Geld finanziert. Maman gab ab und zu Yogastunden, und sie entwarf Kinderkleidung für ein Label, bei dem ein einziges Kleidchen so viel kostet wie die Restaurierung meines alten Kleiderschranks samt neuer Kleidung gekostet hat. Ich übertreibe, ja, aber nur minimal.
Vokabelnotiz
La boboïsation — die Schickimickifizierung, das wäre zumindest mein bescheidener Terminologievorschlag. Bourgeois bohème sind jene Bourgeois, die sich für Bohème halten, mit ihrem Verhalten diese aber zerstören. Auch in Deutschland macht die Schickimickibevölkerung aus einst hippen Vierteln eine musealisierte, kaputtsanierte Puppenstubenwelt.
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Bilder: gesehen in einer Behinderten-
werkstatt (bearbeitet)