Montag, 28. Juni 2021

COVIDiary (332)

Was Dol­met­scher und Über­setzer umtreibt (hier: eine Dol­met­sche­rin­ und Über­set­ze­rin­), beschreibe ich seit 2007 an dieser Stelle. Meine Sprach­kennt­nis­se (Fran­zö­sisch, Englisch) trai­niere ich täg­lich, Covid-19 hat unsere Arbeit jedoch enorm ein­ge­schränkt. Wir sind weniger auf Konferenzen tätig, sondern auch im privaten Kon­text, in Behörden und auf Baustellen.

Neulich, ich war mit einer Privatkundin unterwegs, reißt diese diese plötzlich die Augen auf. Sie macht eine Geste, beobachtet mich bei der Arbeit, lacht mir kurz darauf ins Gesicht. Die Kundin: "Ich hatte ja noch nie mit einer Dolmetscherin zu tun. Aber ich glaube, Du über­trägst auch meine Gesten mit!" 

Ich ahne, was sie meint. Ja, das wurde mir wie­derholt berichtet, das ist vor allem Film­mitarbeiterInnen aufgefallen: Wenn einen bestimmten Inhalt eine bestimmte oder sogar ausladende Geste begleitet hat, über­tra­ge ich diese oft mit.

Glaswände in Wohnungen, Beispiele
Verrière d'intérieur
Das hat meiner Meinung nach mit dem Ab­spei­chern des Gesagten zu tun. Mein gan­zer Körper ist mnemotechnisch daran beteilgt. 

Hier ging es um die Ein­rich­tung einer Woh­nung, eine offene Küche, die vom Rest des Raumes ol­fak­torisch und auch visuell auf elegante Weise getrennt worden ist. In Frank­­reich sind in­nen­lie­gen­de Fenster derzeit schwer in Mode, auf Französisch la verrière d'intérieur oder la verrière d'atelier. Mir gefallen sie gut.

Später sendet mir eine andere betei­lig­te Person ein Zitat zu. Es stammt aus "Mein Herz so weiß", von Javier Marías. In diesem Buch gibt es eine höchst un­wahr­schein­liche Kennenlernszene eines Liebespaars: zwei Dolmetscher, die eine übertägt ur­plötzlich einen anderen Sinn, der andere hört schweigend zu. (Sinn­ent­stel­lend dol­metschen! Der Autor hat wohl nicht genug recherchiert!)

Diese Stelle hier ist aber gut getroffen: Wir SpracharbeiterInnen neigten "dazu, alles verstehen zu wollen, was gesagt wird und mir zu Ohren kommt, so­wohl bei der Arbeit als auch außerhalb, sei es aus der Ferne, sei es in einer der zahllosen Sprachen, die ich nicht kenne … Ich kann es nicht vermeiden, au­to­ma­tisch im Geist in meine eigene Sprache zu übersetzen. Oft übersetze ich sogar das Mienenspiel, die Blicke und die Gebärden …" 

Und da wir jetzt wegen der Pandemie alle Masken tragen, ist vielleicht der Aus­druck der Hände wichtiger geworden.

 

                       Aus dem französischen Fernsehen

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Illustration und Film: La Maison France 5

Freitag, 25. Juni 2021

COVIDiary (330)

Als Kon­fe­renz­dol­metscherin in der Politik arbeite ich oft für die Spitzen des Staates. Durch Corona hat auch unser oberstes Personal öfter mit Di­gi­tal­kon­fe­renzen zu tun, die festan­ge­stellten Dolmet­scher:innen stehen öfter zur Verfügng, da sie jetzt weniger reisen, wir Freien werden seltener nachgefragt. Vorgestern habe ich trotz­dem die oberste die politische Garde gesehen. Und das kam so.

A
n Plakatwänden oder Litfasssäulen fällt mir öfter auf, dass die Aus­stel­lungs­an­kün­di­gung von November 2020 neben der Konzertankündigung für den Juli '21 hängt. Auch im Wartebereich des französischen Konsulats in Berlin gibt es solche Co­ro­na­bil­der. Dorthin wurde ich Mittwoch als Dolmetscherin für eine junge Frau ein­be­stellt, die demnächst hei­ra­ten möchte. 

Arte-Programmheft von Juni
Ihre Eltern sind 1990 aus Ost­eu­ro­pa vor dem Krieg geflo­hen, sie ist Deut­sche und beendet ge­ra­de ihr Stu­dium. Die Fa­­mi­lie des Bräuti­gams ist aus dem gleichen Land ge­flo­hen, einige Jah­re später und nach Fran­kreich. Vor fünf Jah­ren sind die jungen Leute einander zufällig im Internet be­geg­net. Tausende Anrufe, Mails, Kurz­nach­richten und Be­su­che später ist klar: Sie wollen heiraten.

Während die junge Braut in Ber­lin geboren und Deut­sche geworden ist, hat der junge Mann in Frank­reich als Flüchtlings­kind nur kurz die Schule be­sucht und dann ein Hand­werk gelernt. Aus verschiedenen unwichtigen Gründen hat er nie die französische Staatsbürgerschaft angenommen. 

Die Eheschließung soll in Paris statt­finden, dann will der Bräutigam nach Berlin zie­hen. Doch zunächst werden beide ausgiebig befragt, er in Frankreich, sie in Deutsch­land. Audience, heißt das, Anhörung, eine Excel-Tabelle mit Dutzenden Fra­gen will ausgefüllt sein, am Ende werden wir ein zehn­seitiges Dokument pro­du­ziert haben. Frage — Verdol­metschung — Antwort — Verdolmetschung — Frage — Verdolmetschung ...  so gehen die Stunden ins Land. Schließlich wird ausgedruckt, und ich dolmetsche das französische Protokoll zurück ins Deutsche. Wir kor­ri­gie­ren, ändern, ergänzen. 

Die Mobilte­lefone hatten wir am Eingang ins Schließ­fach packen müssen. Wir mer­ken nicht, wie die Zeit verfliegt. Ab und zu setzen wir die Masken ab, nehmen einen Schluck aus der Was­ser­pul­le. Am Ende sind alle müde und hungrig, wir zwei sowie die Protokol­lantin und eine Dame, die sich nicht vorgestellt hat, die aber im Protokoll als Beisit­zende aufgeführt wird. 

Die Punkte sind ebenso er­schöpfend wie banal: Kennen­lernen, Per­so­nen­be­schrei­bung, Zeitvertreib, Urlaubsreisen, Familien- und Wohn­situation, Lebenspläne, lauter Details, die Vater Staat interessieren, um Scheinehen zu vermeiden, an den Film "Green Card" erinnern sich sicher viele. Mich wundert die Genauigkeit dieser Be­fra­gung, der große Aufwand, der heilige Ernst, mit dem sich alle der Sache wi­dmen. Es ist meine erste Amtshandlung dieser Art. An der Wand schaut der ak­tu­elle Be­woh­ner der Liegenschaft 55, Rue du Faubourg Saint-Honoré auf uns herab. Ich merke, dass ich das erste Mal auf das Bild eines Präsi­denten sehe, der jünger ist als ich.

Und ich denke an das deutsche Stan­desamt. Ausländer müssen in Deutschland ein sogenann­tes "Ehefähig­keits­zeug­nis" beibringen, ein Dokument, aus dem hervor­geht, dass sie nicht schon in der Heimat verhei­ratet sind und das es nicht in allen Ländern gibt. Verständliches Anliegen, aber den Be­griff fand ich schon immer grenz­wertig, ebenso die Frage nach dem Schei­dungs­grund, sofern es eine solche gab, bei einem erneuten Aufgebot, vor einigen Jahr­zehnten erlebt. Das hat sich auch grenz­wertig angefühlt.

Nach vier Stun­den verlassen wir die Botschaft. Ich stehe auf dem Pariser Platz und sehe in Rich­tung Westen. Bald wird die Sonne über Charlot­ten­burg untergehen. Der Platz ist leer, es ist kein großer Touristen­sommer. Ich eile ins fran­zö­si­sche Kaufhaus Galeries Lafayette an der Frie­drich­straße, optiere für Zutaten für ein französi­sches Abendessen. An der Kasse stehe ich mit Frau Merkel zusam­men, die am Tag danach ihre letzte Reigerungserklärung zur Europa­politik halten wird. (Falls da am Tag drauf schräge Töne gegen­über Frankreich zu hören sein sollten, ist die salzige Butter aus der Nor­man­die schuld.)

Note to self: Eine Notfall­ration Ka­lo­rien in den Ruck­sack packen, wie das vor der Pan­demie üblich war.

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Foto:
C.E.

Donnerstag, 24. Juni 2021

COVIDiary (329)

Will­kom­men bei mei­nem Blog aus der Ar­beits­welt. Wie wir Dol­metscher*innen und Über­set­zer*innen ar­beiten, ist oft nicht gut be­kannt. Seit die Pan­demie aus­ge­brochen ist, fin­den kaum noch Konferenzen statt (normalerweise arbeite ich mit den Sprachen Französisch und Englisch). Ab heute bin ich in der aktiven Sommerpause, erreichbar und aktiv.

Gestern war in Berlin der letzte Schultag vor den großen Ferien, und obwohl ich nicht mehr in die Schule muss, habe auch ich heute so richtig ausgeschlafen.

Richtig ausschlafen heißt bei mir immer, sich die Träume zu merken: Ich war auf einem Dokumentarfilmfestival, das zu­gleich eine Buchmesse war (in der Pan­de­mie­­atem­pause wird ja viel zu­sam­men­ge­feiert, z.B. EM und Berlinale), und ich ha­be in einer Zei­tungs­re­dak­tion ge­ar­bei­tet da­­bei und am Rande mitbekommen, wie sich eine mir bekannte Person, die sich im­mer wieder als Dolmetscher:in ausgibt, an der Übelsetzung eines Live-Interviews mit einer berühmten Fran­zö­sin krachend gescheitert ist.

Dankbar bin ich aufgewacht. Auch das darf mit auf die Liste der Dinge, die mir in den Coronajahren erspart blei­ben: unlauterer Wettbewerb, der von der werten Kundschaft stumm hin­ge­nom­men wird, als würde es nicht ge­ben: Fach­kent­nisse, Respekt anderer Berufe, Qua­li­tät. Meine Coronagewinnliste dürfte kurz aus­fal­len. Die übliche Win­ter­grip­pe zählt da­zu, übervolle Züge, Anhetzen gegen die Uhr, auf dem Hö­he­punkt der Konferenzsaison feuchte Wäsche in den Koffer zu packen.
Später steht Buchhaltung auf dem Pro­gramm. Dann will ich noch no­tie­ren, was bei meinem gestri­gen Dol­metsch­ein­satz so an­stren­gend war. 

Heute ist der Johannistag, traditionell wäre das der letzte Spargel­tag des Jah­res. Das Früh­jahr hatte al­ler­dings 2021 einen Zeitverzug von min­des­tens vier­zehn Tagen — ob das auch für die Spar­­gel­­ernte gilt?    

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Fotos:
C.E.

Mittwoch, 23. Juni 2021

COVIDiary (328)

Bon­jour, hier bloggt ei­ne Linguistin. Ich ar­beite mit den folgenden Spra­chen: Deutsch, Englisch, Französisch, Film. Derzeit leben wir in einer Welt der Um­brü­che, meine Kleiderkammer wurde zur Dol­metscher­kabine. Vor jedem Si­mul­tan­dol­metsch­einsatz müssen wir aller­dings viel lernen und wieder­holen. Blick auf den Schreib­tisch.

Gästezimmer und Kleiderkammer
Auf dem Schreibtisch:
⊗ Filmvokabular wiederholen (Dreharbeiten!)
⊗ Naturgarten als Zu­kunfts­mo­dell
⊗ Schwammstadt (Was­ser­wirt­schaft)
⊗ Arbeitsvertrag
⊗ "Ehefähigkeits­zeug­nis"
⊗ Ver­än­de­rung der Arbeits­welt
⊗ Urban Gardening
⊗ Buchhaltung
 

Literatur:
⊗ "Natur & Garten", Zeitschrift, Sommer 2020
⊗ Friedrichs, Julia: Working Class, 2021
⊗ Risse/Zimmermann: Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe / Das Neue Berlin aus französischer Sicht, 2020

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Foto:
C.E. (Archiv)

Sonntag, 20. Juni 2021

COVIDiary (327)

Was und wie Über­set­zer und Dol­met­scher arbeiten, können Sie hier mitlesen. Die meis­ten von uns sind selb­stän­dig, sie ar­beiten selbst und ständig, zum Beispiel als Wörtersammler.

Tisch mit Esswaren und Tee in der Draufsicht
Links oben: Milföy
M
ein neues türki­sches Lieblingswort lautet Milföy. Wer Franzö­sisch spricht, darf sich mal an der Ent­schlüs­selung versuchen.

"1000 Blatt", mille-feuille heißt jenseits des Rheins ein Kuchen aus vielen Schic­hten von Blät­ter­teig mit unter­schied­li­chen Fül­lungen und zumeist mar­moriertem Zucker­guss on top. Die türkisch geschriebene Variante be­deu­tet einfach nur Blätter­teig, was auf Französisch wiederum la pâte feuil­letée heißt, der gefal­tete Teig. Worüber sich so beim Sonntags­früh­stück mit dem salzigen Blät­ter­teig­gebäck "Börek" sprechen lässt ...

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Foto:
C.E.