Montag, 1. November 2021

COVIDiary (417)

Hal­lo! Sie sind auf den Sei­ten eines di­gi­talen Ar­beits­ta­ge­buchs gelan­det. Hier fin­den Sie Bilder und Mo­mente aus dem All­tag einer Dol­metscherin in Pan­de­mie­zei­ten. Meine Spra­chen sind Fran­zö­sisch, Eng­lisch und natür­lich auch Deutsch, meine Mut­ter­spra­che.

Kreativer Kopf (Kunst)
Kopf, nicht von Pappe
Es gibt Tage, da erinnere ich mich gerne an meine Kunden. Und dann gibt es sol­che, Kunden, nicht Tage, die würde ich lieber heute als mor­gen ver­gessen. Wie diese fran­zösi­sch­spra­chige Klein­familie, die schwer zur Boboisierung (s.u.) Berlins mit ihren schlech­testen Ausprä­gun­gen beige­tragen hat. Einige Male durfte ich die Leute zu Ämtern be­glei­ten, zur Ein­schu­lungs­un­ter­su­chung der Tochter und zu Gericht. Die Fa­mi­lie schien immer klamm, so zu­mindest bei der Ho­no­rar­ver­hand­lung. An­sonsten hat sie auf großem Fuße gelebt. Und eine Über­wei­sung meiner Ho­norar­note konnte schon mal Monate in An­spruch nehmen.

Eines Tages bekam ich eine Mail. Ich wartete gerade wieder auf eine Überwei­sung. 

Ob ich nicht vielleicht das schöne Designer­sofa über­nehmen wolle statt der Bezah­lung, Foto im Anhang, wurde ich gefragt. Der De­signer ist namhaft, weltweit, die Möbel gelten als elegant, ich finde sie aber ebenso un­be­quem wie un­prak­tisch. Hier folgt kein Marken­name, kein Bild. Der Ärger muss nicht noch größer werden.

Mit einer zweiten Mail, ver­sendet an eine grö­ßere, anony­me Grup­pe, er­reichte mich eine Woh­nungs­an­zeige. Man werde aus beruflichen Gründen Berlin verlas­sen, ziehe nach Lon­don. Die schöne neue Wohnung am Gleis­dreieck sei jetzt frei, 180-Grad-Blick auf den Park und Rich­tung Pots­damer Platz würden hier geboten, 120 Qua­drat­meter für 3100 Euro warm, mit Kamin und zwei Tiefgaragestellplätzen, nur 15 Minuten Fußweg zur franzö­si­schen Grund­schule Voltaire. Ich ahne, in welchem Neubau­bereich die résidence tant aimée liegt, das "so sehr gelieb­te Anwesen".

Kreativer Kopf (Kunst)
Kein Holzkopf
Idéal pour une famille d'expats, steht da noch, ideal für eine Fami­lie von Expats, expatriés, außer­halb der Heimat le­bende und ar­bei­tende Menschen, die (eigent­lich engli­sche) Exklusiv­form des Wortes "Gast­ar­bei­ter". 

Der Familien­vater war nicht politisch-dip­lo­matisch tätig, wie manche unserer Privat­kun­den, sondern für ein deutsches Groß­un­ternehmen, das fran­zö­sisches Geld fi­nan­ziert. Maman gab ab und zu Yogastunden, und sie entwarf Kinder­kleidung für ein La­bel, bei dem ein einzi­ges Kleid­­chen so viel kostet wie die Restau­rierung meines alten Kleider­schranks samt neuer Kleidung ge­kos­tet hat. Ich über­treibe, ja, aber nur mini­mal.


Vokabelnotiz
La boboïsation
— die Schi­cki­micki­fi­zierung, das wäre zumin­dest mein be­schei­de­ner Ter­mi­no­lo­gie­vorschlag. Bour­geois bohème sind jene Bour­geois, die sich für Bohème halten, mit ihrem Verhalten diese aber zerstören. Auch in Deutsch­land macht die Schi­cki­micki­be­völkerung aus einst hippen Vierteln eine muse­ali­sier­te, kaputt­sa­nierte Pup­penstuben­welt.
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Bilder:
gesehen in einer Behinderten-
werkstatt (bearbeitet)

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