Mittwoch, 18. Dezember 2019

Berlin am Meer

Herzlich willkommen beim Web­log aus dem In­ne­ren der Dol­met­scher­ka­bi­ne. Hier schreibt ei­ne Fran­zö­sisch­dol­metscherin über ihre Einsätze in Ber­lin, Paris, Lille und anderswo. 

Pflanzen vor und Möwen hinter dem Fenster
Möwen im Doppelkastenfenster
Jetzt beginnen die Tage au­ßer­halb der Ka­bi­ne: Ver­wal­tungs­kram steht an, Vo­ka­bel­lis­ten sind zu er­gän­zen, und das ein­ge­sam­mel­te Ma­te­rial landet gro­ßenteils in den Reißwolf. Die Beine sind im Büro, der Kopf plötzlich am Meer.

Berlin kann so schön sein. Gerade füt­tert wieder je­mand am Ufer die Möwen (was eigent­lich nicht so toll ist fürs Ka­nal­was­ser). Das beschert uns hier eine Klang­land­schaft, als wohnten wir am Hafen, als würden eben die Fisch­kutter von hoher See zu­rück­keh­ren. Ich schmecke das Jod der See­luft und spüre Sand zwi­schen den Ze­hen. Das hat was: Berlin-sur-mer (siehe Titel dieses Blogposts). Und gleich fällt mir Tucholsky ein.

Kurt Tucholsky
DAS IDEAL

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn —
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer — nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve —
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) — 
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad — alles lenkste
natürlich selber — das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen —
alte Weine aus schönem Pokal —
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten —
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.
Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

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Foto: C.E.  
Gedicht von 1927

Dienstag, 17. Dezember 2019

Paris

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Auch in turbulenten Zeiten gehen Dolmetscherinnen und Dolmetscher ihrer Arbeit nach.

Jeden Tag beschäftigen wir Dolmetscherinnen und Dolmetscher uns aufs Neue mit ge­sell­schaftlich relevanten Themen, dazu gehö­ren auch Theorien und erste Praxis­versuche einer anderen Art des Wirt­schaftens, von sozialer und soli­da­ri­scher Öko­no­mie bei­spiels­weise, die meiner Mei­nung nach noch nicht genug Beach­tung fin­den. Unsere Länder müssen mehr Geld für Um­welt­schutz einsetzen, für den Um­bau der Ökonomie, für Bil­dung, Bil­dung, Bil­dung und natürlich für So­ziales. Die an­ste­hen­de nach­haltige Transi­tion wird  ohne sozia­le Gerechtigkeit nicht mög­lich sein. Und von so­zia­ler Gerech­tig­keit sind wir in vie­len Län­dern der­zeit weit ent­fernt — das ist weder ökolo­gisch noch sozial oder christ­lich.

A propos christlich und die an­ste­hen­den Feier­tage: Interessant eine Initiative in München. Dort gehen eine Hochschwangere und ein Handwerker gerade ebenso pres­se- wie pub­li­kums­wirk­sam auf Woh­nungs­suche, das Ganze hübsch inszeniert als Protest­ak­tion gegen Wohnraum als Spekulationsobjekt (Link zum SZ-Artikel).

Buntstiftzeichnung: Absperrung durch die Polizei (ganz in Schwarz)
Baudenkmal hinter schwarzer Wand







Oder eben Paris: In der Stadt meines zweiten Wohn­sitzes geht es derzeit hoch her. Der Weg zur Arbeit ist müh­se­lig. Wir Dol­met­scher streiken nicht, ha­ben indes Ver­ständ­nis für Ar­beits­käm­pfe und Aus­ein­an­der­set­zun­gen um soziale Standards, sind unter­schied­li­che Mei­nun­gen und das Aus­ver­han­deln doch Teil der De­mo­kratie; das Gleiche gilt für die immer drin­gender wer­dende Fra­ge nach der Nachhal­tigkeit un­se­rer Le­bens­wei­se.

Aber mir macht die Entwick­lung derzeit Angst. All­zu oft schla­gen etli­che dort über die Strän­ge, Steine­wer­fer auf der einen, aber auch Vertreter der Staats­­macht auf der anderen Seite, die, fast kom­plett schwarz ge­kleidet, mit Hel­men und Schil­­den eher wie Robo­­cops wirken als wie unser "Freund und Helfer". Es kam in den letzten Monaten zu schrecklichen Ver­stüm­­me­­lun­gen Demons­­trie­render und Pas­san­ten und sogar zu Toten. Diese Staatsmacht lässt mit Gummi­­ge­schos­sen auf Men­schen schie­ßen.

Die schwarze Wand vor Bau­denk­­malen finde ich beäng­sti­gend. Beim Vor­bei­ren­nen zum Einsatz spüre ich die dräuende Wut bei­der Seiten fast physisch. Schnell weg hier, fort zum Ter­min und nachher durch den Hin­ter­­ein­gang raus und auf Um­wegen zu Fuß nach Hause.

Warum Dol­met­scher nicht streiken, dürfte klar sein: Der Aus­­tausch zwischen den verschie­denen Akteu­­ren der diversen Länder ist unsere Arbeit; aber auch Rück­spra­chen, wis­sen­schaft­­li­­che Be­glei­tung der gesell­schaft­li­chen Entwicklung ebenso wie das Nach­den­ken diverser Grup­pen über Lösungen und anstehende, wei­ter­ge­hen­de Fra­gen. Wir Dol­met­scher sind da ähnlich wie Ärzte oder Feu­er­wehr­leute.

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Illustration: C.E.

Montag, 25. November 2019

Frische Luft!

Willkommen beim Blog aus der Arbeitswelt. Wie Dolmetscher und Übersetzer ar­beiten, ist oft nicht gut bekannt. Darüber schreibe ich hier sowie über an­gren­zen­de Berufe — zwi­­schen Hirnforschung, Ghostwriting und Tontechnik. Diese Berufe haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Daher werfe ich auch manchen nicht ernstgemeinten Blick zurück.

Luft ist wichtig für die kleinen grau­en Zel­len. Ich liebe alte Bü­ros und dort die Mög­­lich­keit, die Fenster aufreißen zu können — wie hier bei dieser Bau­haus­fas­sade aus den 1920-ern. Wir sehen zwei Mit­ar­bei­ter eines High-Tech-Labors der da­ma­li­gen Zeit; hier werden Mi­kro­fo­ne getestet. Die Mit­ar­bei­te­rin schaut sich zwi­schen­durch Ver­gleichs­er­geb­nis­se auf ihrem Smart­phone an.

Arbeitswelt in den 1920-er Jahren
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Foto: Eigenes Archiv (zum Vergrößern
in ein zweites Fenster laden)

Sonntag, 24. November 2019

Koffein

Was und wie Über­setzer und Dol­met­scher arbeiten, können Sie hier mitlesen. Die meis­ten von uns sind selb­stän­dig, sie ar­beiten selbst und ständig. Gerade jetzt im Herbst bleiben oft kaum Pausen im Konferenzbetrieb. Sonntagsbilder!

Kaffebohnen, -mühle und -kocher
Draufsicht im Licht der morgendlichen Glühbirne
Bis Frei­tag­abend war ich im Ein­satz, Sams­tag dann Er­ho­lungs- und Haus­halts­tag, Sonn­tag wird wei­ter­ge­lernt, weil ab Mon­tag neue Kon­fe­ren­zen und De­le­ga­tio­nen und Pres­se­in­ter­views an­ste­hen. Wie schön, dass wir un­se­re le­ga­len Sti­mu­lan­tien ha­ben. Mor­gens trinke ich ger­ne Kaf­fee, dann mu­tiere ich ab dem spä­ten Vor­mit­tag zur Tee­trin­ke­rin.

Teekannen auf Stövchen
Grün- und Schwarztee im Nachmittagslicht
Dazu ge­nie­ße ich ab und zu fast ro­he Scho­ko­la­de, sehr hoch­pro­zen­ti­ge, die die Kof­fe­in­do­sis wun­der­bar er­gän­zen kann.
Pro­gramm heu­te: Ein we­nig gärt­nern, et­was nä­hen, ein My Mu­se­um, dann Über­set­zungs­be­spre­chung mit ei­nem bil­den­den Künst­ler für spä­ter im Jahr, Vo­ka­bel­ler­nen und Vor­trä­ge vor­be­rei­ten. Ein völ­lig nor­ma­ler Sonn­tag!

Andere Dro­gen sind für das Gros der Dol­metscher tabu. OK, also ab und zu etwas Wein oder Bier. Und Sport, was eine Droge sein kann, und Luft und Lie­be. Dol­met­schen ist ein in­tel­lek­tu­el­ler Hoch­leis­tungs­sport. Wir füh­ren das Le­ben von Leis­tungs­sportlern. Aber nur mit le­ga­lem Doping.

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Fotos: C.E.

Donnerstag, 21. November 2019

Ausschreibungsarithmetik

Willkommen beim Blog einer Spracharbeiterin. Über die Welt der Übersetzer und Dolmetscher berichte ich hier. Ich arbeite in den Bereichen Politik-, Kultur- und Modewelt, Industrie und Handwerk. Hier schreibe ich über meinen Alltag.

Kiesel mit weißen Adern
Meditationsobjekte
Aus­schrei­bungen sind in viel­facher Hin­sicht nervig. Meistens kosten sie viel Zeit, in­des sind die Chancen, den Zu­schlag zu be­kom­men, nicht einmal grob ab­schätz­bar. Dabei sind die Regu­larien von Land zu Land unter­schiedlich. In Kanada wird der Zweit­bil­ligste genom­men, in der Schweiz der Mittel­wert aller Ange­bote er­rechnet und dann be­kommt dasjenige den Zu­schlag, das am nächs­ten dran liegt.

So ist diese Aufgabe manch­mal dem Lot­to­spie­len ähnlich. Mit bes­se­ren Ge­winn­chan­cen na­tür­lich. Anstren­gend wird es, wenn wir nicht einmal die po­ten­tiel­len Kun­den be­fra­gen kön­nen, wo­rauf genau in wel­cher Wer­tung ge­ach­tet wird.

Denn die Ent­schei­dungs­fin­dung hand­habt hier­zu­lan­de je­der an­ders. Al­so ha­be ich mal wie­der ei­nen Tag nur mit Aus­schrei­bungen ver­bracht. No risk, no fun. Wobei die Ch­ose ja gar nicht ris­kant ist. Der größ­te Ver­lust, den ich einge­hen kann, ist die ei­ge­ne Zeit.

Zwischen­durch, und das mag ich am Arbeiten im heimi­schen Arbeits­zimmer, habe ich mich Haus­halts­themen gewidmet. Und über Ordnung nach­gedacht. Un­ord­nung ist Ma­terie am falschen Ort, habe ich mal wo gehört. Die wei­ßen Adern dieser Stei­ne zeich­nen eine Li­nie, die keinen geschlossenen Kreis bilden. Das Be­trach­ten von Kie­seln ist mit­un­ter genauso ziel­füh­rend wie die Be­tei­li­gung an Aus­schrei­bun­gen. Auf jeden Fall be­ru­hi­gen­der.

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Foto: C.E.

Mittwoch, 20. November 2019

Auf dem Schreibtisch (LIX)

Guten Tag, bon­jour & hel­lo auf mei­nen Blog­sei­ten aus der Ar­­beits­­welt! Hier ver­öf­­fent­­li­che ich kurze (anonymisierte) Episoden aus meinem viel­sei­ti­gen All­tag, Gedanken zu Kultur und Sprache sowie Hinweise zu meinen Arbeitsfeldern.  

Arbeitsplatz
Im Morgenlicht
Heute wieder: Blick auf den Schreibtisch, was mich in den nächsten Wo­chen er­war­tet. Man­che Vor­be­rei­tung ist län­ger­fris­tig. Weil immer kurzfristig etwas reinkommt, steht an 1. Stelle:

⊗ Aktuelle Politik
... gefolgt von:
⊗ Sozialer Dialog in D'land (für eine ME­NA-De­le­ga­tion)
⊗ Französische Vorstadt im Kino­film
⊗ Bauhaus-Jubiläum
⊗ Agrarökologie im Senegal
⊗ Kongo: Demokratie und Pers­pek­ti­ven
⊗ Entwicklungsprojekt in Re­gen­wald­zonen
⊗ Großküche: Flächenaufteilung
⊗ Eigene Schreibprojekte (Kinderbuch)


Das sind Themenbeispiele aus der Praxis. In viele weitere Bereiche habe ich mich in den letzten Jahren eingearbeitet und bin immer wieder gespannt auf Neues.

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Foto: C.E. (Archiv)

Dienstag, 19. November 2019

Terminhassle (2)

Was und wie Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer (und Dolmetsche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen) arbeiten, darüber berichte ich auf diesen Blogseiten im 13. Jahr. Wir sind mitten in der Hochsaison der Konferenzen.

Neu­lich bin ich ja tat­säch­lich zu einem Wieder­se­hens­ter­min nach 20 Jah­ren einen Monat zu früh im Café erschienen. Auf die 20 Jahre bezogen ist es fast pünkt­lich. Aber eben leider doch vor­bei.

Lampenfuß, Kalender, Eiffelturm, Monitor, kleine Metalltruhe (Büroklammern)
Sekretär im Mittagslicht
Für einen an­deren Ter­min, zu dem ich am 21.11. gebucht bin, suche ich jetzt schon län­ger Infor­mations­material, weil über den Kol­legen, über den das läuft, so gar nichts rein­kommt. Da­bei schwant mir so lang­sam, dass der Ter­min gar nicht 2019 statt­fin­den könnte, sondern 2020.

Auch für Juli 2020 steht schon ei­ni­ges im Ka­len­der.

OK, calm down. Nach die­sem Ver­such der Selbst­be­ruhi­gung räum ich mal weiter den Schreib­tisch auf. Der hat's nach den tur­bu­len­ten Kongress­wo­chen näm­lich nö­tig. Dabei ist das gerade nur eine klei­ne Ver­schnauf­pause.

EDIT: Der Termin dieses Jahr war nicht zustandegekommen. Eine französische "Lange Nacht der Philosophie" findet in Berlin frühestens am 21.11.2020 statt. Dann habe ich ja ein weiteres Jahr, um mich einzuarbeiten. Auch schön.

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Foto: C.E.

Montag, 18. November 2019

Buchungsaufwand

Bonjour, welcome, guten Tag! Hier bloggt eine Dolmetscherin und Übersetzerin. Was wir arbeiten, wie das geschieht und wie wir anzusprechen sind, ist für Au­ßen­ste­hen­de oft ein Buch mit sie­ben Sie­geln. Dabei ist es ganz einfach.

Freiberufliche Dolmetscher stellen in unserer Branche den Premium­markt dar. Wir haben fünf bis sieben Jahre studiert, auch im Aus­land, oder ha­ben nicht selten be­rufs­be­dingt mehrere Wohnsitze.

Bei Klas­sen­tref­fen treffen wir gelegentlich die Mit­schü­ler von einst, die viele Jahre vor uns ins Berufsleben eingetreten sind. Unsere festan­gestellten Alters­ge­nossen erhalten nicht nur Urlaubs-, Kranken- und Weihnachts­geld, sie dürfen künftig mit der gesetz­li­chen Rente rechnen, bis dahin trägt ihr Arbeitgeber die an­fal­len­den Kosten für Arbeits­­­platz und Fortbildungen.

Wir Dolmetscher erwirtschaften das selbst. Das ist der Grund dafür, dass unsere Ho­no­rar­sätze einigermaßen hoch sein müssen. Heute sind sie zu niedrig. Im Zuge der allgemeinen deutschen Lohn­zu­rück­hal­tung wurden sie in den letzten 25 Jahren knapp an die Inflation an­ge­passt. Mit dem steigenden Arbeitsaufwand halten sie auch nicht Schritt. Denn wo wir früher drei, vier Tage lang für einen Kon­gress ge­dol­­metscht haben, wer­den wir heute oft nur noch einen, manchmal zwei Tage ge­bucht. Die Sessions sind dichter und kürzer geworden, die Tage länger.

Daher sind unsere Kunden gut beraten, uns Sprach­dienstleister direkt zu buchen. Denn werden wir Dolmetscher über den Zwischenhandel angefragt und als Sub­un­ter­neh­mer verpflichtet, fehlt das Geld für diese Rücklagen, die anderswo unter "Arbeitgeberanteile" und Sozialabgaben fungieren.

Für mehrtägige Einsätze, gerne auch mit mehreren Sprachen, ist es sinnvoll, eine Kol­le­gin/einen Kol­legen als be­ra­ten­de(n) Dolmetscher/in zu verpflichten — und die­sen Aufwand auch gesondert zu vergüten. Wir buchen, wen wir aus eigener Er­fah­rung kennen. Und wer selbst in der Ka­bine sitzen wird, achtet bei den Kol­le­gin­nen auf hohe Qualität.

Money makes the world go round
Diese Be­ra­tung be­rechnen auch die seriösen Agen­­­tu­ren extra. Ich durf­te in­zwi­schen ei­ni­ge we­ni­ge ken­­nen­­­ler­nen.
Einmal haben wir in drei Sä­len jeweils fünf Ka­bi­nen bes­challt, Ex­kur­sio­nen kamen noch hin­zu. Wir waren froh, dass da jemand nur für un­se­re Ab­lauf­planung zustän­­dig war. Auch hier erfolgte die Kol­le­gen­aus­­wahl über un­se­re konkreten Em­pfeh­lungen.

Sie buchen also, wen sie vom Hören­sagen kennen. In der Regel sind diese Agen­tur­mit­ar­beiter aber keine Dolmetscher.

Blind bucht die dritte Kategorie auf dem Markt, die zahlreichen Fir­men, die eine "Agentur" si­mu­lieren. Hier sind Gän­se­füßchen durchaus angebracht, denn Stock­fotos und Brief­kas­ten­adresse sind genauso schnell im Internet gekauft wie eine Domain. In der Folge erleben wir Spracharbeiterin­nen keinen Mehr­wert durch diese Makler, die aber für den er­schwer­ten Kontakt zum Kunden — unsere Fragen nach Vor­be­reitungs­­material ver­hallt zumeist ungehört — einen nicht unerheblichen Pro­zent­satz unserer Ho­no­rare beanspruchen, das können schon mal 35, 50 oder mehr Prozent sein. Für solche Makler arbeiten erfahrene Kolle­ginnen eher nicht. Damit ist die Buchung über solche Sprach­dis­counter immer ein Vabanquespiel für die Kunden.

Damit schaden derartige Firmen den Kunden und der ganzen Bran­che, denn sie ha­ben oft vom Dolmet­schen recht wenig Ahnung, weil sie vor allem Kauf­leute sind. Deshalb beraten sie Kunden auch nicht zu selten falsch. Zwei bis drei Stunden Prä­sen­­ta­­tio­­nen und Diskus­sions­beiträge verdolmetscht auf Konfe­renz­niveau nie­mand von uns ohne Kollegin oder Kollegen.

Dol­met­schen ist Team­arbeit und äußerst for­dernd für das Gehirn. Sollte Ihnen ein Un­terneh­men eine Solo-Kollegin (*) anbieten, handelt es grob fahr­läs­sig. Denn eine der­ar­ti­ge neu­ro­lo­gi­sche Über­­for­de­rung kann unter Um­stän­den ir­re­ver­si­ble Schäden auslösen, für die der End­kunde dann haftbar wäre. Ich deute nur an: Ein britische Kol­legin sitzt nach einem bei solcher Über­an­spru­chung erlittenen Aneu­rysma im Roll­stuhl.

Also Augen auf bei der Buchung! Als Teil verschiedener Netzwerke kann ich sagen: Wir beraten Sie gerne.

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Foto: Jeremy Lynch
(*) oder einen Kollegen

Freitag, 15. November 2019

Schlagfertig (1)

Was Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer (und Dolmetsche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen) so umtreibt, davon können Sie hier einen kleinen Eindruck er­hal­ten. Im 13. Jahr blogge ich über meinen höchst sprachbetonten All­tag. 

Gestern, am Rande meines Einsatzes in einem Fünf-Sterne-Hotel, als ich eine hoch­ran­gige Persön­lichkeit gedolmetscht habe, fragt doch ein deutscher In­dus­tri­el­ler: „Was kostet denn so ein Abend­essen mit Dol­metscherin?“ Ich: „Von 800 Euro an aufwärts.“ Er: „Das ist ja teu­rer als mit einem Escort-Girl!“ Ich: „Dafür gibt‘s hier mehr Auf und Ab — und mehr Zun­gen­fertigkeit!“ Er: „Und mehr Schlag­fer­tig­keit!“ Ich: „Sie sagen es.“

Abgedroschen heißt das "eine Luxusherberge"
Oder hätte ich andere Schlag­fer­tig­keit be­weisen und den Herrn ohr­feigen sollen? Auf jeden Fall ist es schade, dass man­che Menschen nichts aus den Me too-Debatten gelernt zu haben scheinen. Und die Ver­­samm­­lung war ins­ge­samt so, dass ich die Ansprache: "Meine Da­­men und Herren" ruhig als "Mei­ne Her­ren" hätte dol­met­­schen können.

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Bild: Wikicommons, Unbekannter Grafiker,
Central-Hotel, Friedrichstraße, Berlin.

Montag, 11. November 2019

Der Schneemann in der Sonne

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Heute: Das mnemotechnische Pausengespräch.

Ein Fachgespräch irgendwo im Regierungsviertel. Der Weg zur Toilette führt uns ins Treppenhaus, zurück geht es nur mit Türcode. Der steht auf einer Wandtafel: 8340.

Ein Kollege verkneift sich den Klo­gang. Er sagt, er könne sich keine Zah­len mer­ken. Hej, das ist doch mein Satz!, denke ich. Er war es lange.

Wir sind in der Kaffeepause. Ich gebe den Code aus der Er­in­ne­rung wie­der: "8340. Ist doch ein­fach." Für den Kol­legen über­set­ze ich ihn kurz in ein Bild: "Ein ganzer Schnee­mann sitzt mit einem halben Schnee­mann auf dem Stuhl und schmilzt in der Son­ne."

Als Kind hatte ich große Prob­leme mit Zah­len. Ich bin Linkshänderin, wurde aber "umge­schult" auf rechts. Natür­lich ging das gut, Gehirne sind plastisch. Lei­der ha­be ich seit­dem eine leichte Rich­tungs­störung. Wo ist rechts, wo ist links? Da mein Vater die­sel­ben Schwierig­kei­ten kennt, wurde in der Fa­milie mit den Achseln ge­zuckt und zur Tages­ordnung über­ge­gangen.

Diese Symbole stehen für eine Jahreszahl
Also war ich alleine mit den Problemen. Sechs und neun, Kreis mit Schwänz­chen dran, einmal hoch, einmal runter. Welcher ist mehr wert? Die Drei ist ein in Spie­gel­schrift ge­schrie­benes Schreib­schrift-E, au­ßer­dem als Symbol eine halbe Acht, aber mathe­matisch nicht. Der Onkel hatte einen digi­talen Wecker, die Zahl vier sah aus wie ein Stuhl, der auf dem Kopf steht. Ich fing an zu sammeln.

Null — Sonne, Eins — Kerze, Zwei — Schwan, Drei — halber Schneemann, Vier — Stuh, Fünf — Handschuh, Sechs — Schnecke (Haus unten), Sieben — Fahne, Acht — ganzer Schneemann, Neun — Lupe (Griff unten)
Grundlage für Bildergeschichten

Da ich nicht mit den Fingern rechnen sollte, die Pädagogik der 1970er Jahre fand das nicht empfehlenswert, habe ich mir Symbole ausgedacht. Und Jahrzehnte später bin ich überrascht, dass das nicht alle gemacht haben.

In Berlin-Mitte geht der Kollege dann doch aufs Klo. Es klappt auch ohne Code, denn er hat ja uns in Sichtweite fürs Türeöffnen.

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Illustrationen: C.E.

Samstag, 9. November 2019

Der blaue Wintermantel

Bonjour, hello, guten Tag. Hier bloggt eine Übersetzerin und Dolmetscherin (Schwerpunkt DE und FR). In meinem Arbeitstagebuch schreibe ich über Sprache, Länder und Leute. Heute: Wie ich beinahe den Mauerfall verpasst hatte, obwohl ich damals als Pariser Studentin den Novemberanfang in Berlin verbracht habe.

Mauer in Kreuzberg, September 1989
Plötzlich hing er an einem Klei­der­stän­der auf der Stra­ße, der tauben­blaue Man­tel aus dicker Wolle mit Kasch­mir mit wun­derbar großen Knöp­fen und einem brei­ten Kragen zum Hoch­schla­gen.
Er wirkte ebenso zeitlos wie modisch. Auf den ersten Blick schien er mir trotz­dem unpas­send und zu winterlich für den Herbst zu sein.

Denn seit Wochen war es für die Sai­son zu warm ge­we­sen. In Leip­zig und auch Ber­lin gingen Menschen­mas­sen auf die Straße, die vielleicht bei schlechten Wit­te­rungs­be­din­gun­gen weniger groß gewesen wären.

Eigentlich brauchte ich so ein dickes Möbel nicht. In Paris, wo ich da­mals studiert habe, waren die Winter milder. Aber wer wusste denn schon, wie sich das Wet­­ter in die­sem No­vem­ber ent­wickeln würde. Auf dem Weg ins Literatur­haus in der Fa­sa­nenstraße war die Preis­re­duk­tion von 200 auf 49 DM schließlich aus­schlag­ge­bend.

Damals habe ich im vierten Jahr in Paris studiert und steckte in einer Phase, in der ich nur mit halbem Tempo studiert habe. Seit meinem Berufs­prak­ti­kum Sommer 1988 war ich eine der jüngs­ten freien Mitar­beiterinnen des Sen­der Freies Berlin (wenn nicht die jüngste). Im Som­mer die­ses Jahres hatte ich offiziell als Kul­tur­kor­res­pon­den­tin aus Paris über die Zwei­hun­dert­jahr­feiern der Franzö­sischen Re­vo­lu­tion berichtet.

Da fand in der Woche ab dem 6. November in Berlin eine Hörspiel­konferenz statt, die "Hörspieltage", ich also hin. In der wunderschönen Litera­tur­haus­villa in Ku­damm­nä­he haben wir den ganzen Tag Hör­spiele gehört und diskutiert. An­schlie­ßend sind wir nicht selten zusammen essen gegangen.

Am Abend hat mich eine Redakteurin im Wagen Rich­tung Kreuz­berg mitge­nommen. Im Autoradio kam etwas mit Ber­lin, Grenze, Öffnung, Menschen­mas­sen ... Wir so: "Och, nicht schon wieder Hör­spiel, davon hatten wir den Tag über genug!" Radio aus.

September 1989, auch Kreuzberg
Als ich der WG ankam, die mich beherbergt hatte, fand ich einen Zet­tel auf dem Kü­chen­tisch vor: "Mauer offen, Tref­fen wir uns an der Hein­rich-Hei­ne-Straße". Damals gab es ja noch kei­ne Mobil­telefone. Im ein­ge­mau­erten Berlin war es möglich, wenn man immer an der Wand ent­lang­ging, ein­an­der ver­ab­re­de­ter­wei­se an einem öf­fent­li­chen Ort zu treffen.

Die halbe Nacht ver­brac­hten wir dort, später ging's ans Brandenburger Tor. Ich erlebte die Nacht zwischen hys­te­ri­schem Lachen und Weinen. Außerdem rat­ter­ten mir wie in einer münd­lichen Geschichts­prüfung sämtliche relevanten Ereig­nisse deutscher Geschichte an neun­ten No­vem­bern durch den Kopf. Dazu kamen drei Tril­lio­nen üble Vorahnungen und mit­ge­fühl­tes Leid über so viele angehaltene, zerstörte, erschwerte Lebens­we­ge. Bis ins späte Frühjahr 1990 hatte ich sogar noch Angst vor einem Putsch der DDR-Ge­heim­dienste.

Der blaue Man­tel hat mich schön gewärmt in dieser Nacht. Einen Tag später saß ein Freund aus dem Osten am Kreuz­berger WG-Tisch und ist mitten im Er­zäh­len ein­ge­schlafen. Aber das ist eine andere Ge­schich­te.

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Foto: C.E. (Archiv)

Freitag, 8. November 2019

Rauswerfer der Woche

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Nach einem grip­pa­len In­fekt hat mich ein ver­dor­be­ner Fisch nie­der­ge­bü­gelt. Jetzt bin ich wieder auf den Beinen und eile sofort an den Ar­beits­platz.

Das Mikro steckt am Kopfhörer, hier: weggedrehtes Pultmikro ...
Und dann sagt der Mo­de­ra­tor tat­säch­lich das sehn­lichst er­war­te­te En­de der Kon­fe­renz an: "Be­vor wir gleich aus­ein­an­der­gehen, legen Sie bit­te noch die Dol­metscher flach auf den Tisch. Neh­men Sie sie nicht mit nach­hause, da wohnt kein klei­ner Mann oder kei­ne klei­ne Frau drin, die sind bei Ih­nen zu­hau­se nicht weiter zu gebrauchen."

Dieser Raus­wer­fer der Woche ver­­schlägt dann erst­mal sogar der Per­son im Saal fast die Sprache, die aus ihrer größten Schwä­che, der großen Ge­sprächig­keit, ihren Beruf gemacht hat. (Also mir.)

Und ja, es soll Fäl­le gegeben haben, wo sich Men­schen die Kopf­hörer mit Em­pfangs­ge­räte ein­ge­steckt haben und an­schlie­ßend ganz ent­täuscht ge­we­sen sein sol­len.

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Foto: C.E. ... sowie Fotograf im Hintergrund

Donnerstag, 7. November 2019

Auf dem Schreibtisch (LIIX)

Mitten in ei­nen Blog aus der Ar­beits­welt sind Sie rein­ge­ra­ten: Bon­jour und herz­lich will­kom­men! Hier stehen kurze (anonymisierte) Episoden aus meinem mit­un­ter sehr vielseitigen Alltag, Gedanken zu Kultur und Sprache sowie Hinweise zu meinen Arbeitsfeldern. 

Hier der 58. Blick auf den Schreib­tisch. Dieser Tage geht es um ...

Sekretär, Bilder, Stuhl, Divan
Ein Arbeitszimmer vom Ende des 19. Jahrhunders
⊗ Mau­er­fall (im Ro­man)
⊗ Deutsche in der Résistance
⊗ Konfliktrohstoffe und Elek­tro­mo­bilität
⊗ Regenwasser­ma­na­gement in der Stadt
⊗ Großküchen­pla­nung (Kos­ten­vor­an­schläge)
⊗ Philosophische Grund­kon­flik­te
⊗ Kontrafaktische His­torio­gra­phie (Nach­be­rei­tung)
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Foto: Archiv

Montag, 4. November 2019

Oma Eierschecke

Willkommen beim Blog einer Spracharbeiterin. Ich verdiene meine |Brötchen| Croissants mit Übersetzen und Dolmetschen für Menschen aus der Politik-, Kultur- und Modewelt, Industrie und Handwerk. Hier schreibe ich über meinen Alltag und die Sprache(n).

Windrad, Froschperspektive
Irgendwo in Hessen
Wir sind mitten im Westen, irgendwo im Hessischen, am Fuße einer Wind­kraft­an­la­ge, erst draußen, dann drinnen. Wir, das sind zum einen unsere Gäste aus Tu­ne­sien, die im Bereich Er­neu­er­bare Ener­gien ar­bei­ten, zum anderen ein Be­gleit­team. Die Dele­gation sieht sich auf höchste Einla­dung in Deutschland um.

Wir bekommen erst die Windräder erklärt, dann geht es um Sicher­heits­belange. "Wie wird der Alarm losgelöst?", fragt einer der Gäste. Jetzt folgen Details, die hier nicht relevant sind. Der Gast­geber berichtet und schließt mit den Worten: „Ja, und dann geht bei Löschmeister Was­serhose der Alarm los!“

Das ist eine Anspielung an das Buch "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt" von Hannes Hüttner (1969). Die (West)-Dolmetscherin mit partieller Ostvergangenheit, also ich, darauf schlagfertig, bevor es kon­se­kutiv ins Franzö­sische geht: „Und bei Oma Eier­schecke wird schon wieder der Kaffee kalt!“ Augen­zwinkern. Stummes Ein­ver­ständnis.

Als Ost-West-Kinder, meine Geschwister und ich sind in den 60ern und 70ern ge­bo­ren, hatten wir fast nur Ost-Kinder­bücher zu Hause, denn der Mindest­um­tausch von den langen Fe­rien­wo­chen in Sachsen musste ja gut an­ge­legt werden. Darun­ter auch ein dickes Vor­lese­buch mit Geschich­ten für den Kinder­garten. Darin stand auch die Ge­sch­ichte von der Feuer­wehr­station. Unser Vater hat uns jeden Abend eine bis zwei Stunden lang vorgelesen, was übrigens DER Tipp für alle Eltern ist.

Dass ich eigentlich im Westen auf­ge­wachsen bin, also außerhalb der Ferien­zeiten, die ich in der DDR oder in Frank­reich war, dane­ben war ich nur ein einziges Mal in Österreich, mehr Ferien­des­ti­na­tionen gab es in unserer Kindheit nicht, habe ich unserem Gastgeber gegenüber beim Heimweg durch den Wald noch aufgelöst. Aber so viele Heimatgefühle in­mit­ten einer tu­nesisch-fran­zö­sisch­spra­chigen Gruppe war schon schräg!

Und heute lese ich diese Ge­schich­ten natürlich selbst vor, wenn sich die Ge­le­gen­heit dazu ergibt.

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Foto: C.E.

Sonntag, 3. November 2019

Allgemeinbildung

Im 13. Jahr beschreibe ich hier meinen sprachbetonten Alltag. Ich bin Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin und Übersetzerin, und sonntags werde ich privat.

Neuköllner Angebot
Mir wür­de es ge­fal­len, ei­ne "monstermäßige Allge­mein­bil­dung" zu haben, soll ich neu­lich in einem In­ter­view gesagt haben. (Ich durfte schon mal rein­schauen, es erscheint nach dem Mau­er­fall­ju­bi­läum, Hinweis folgt.)

Klingt für mein Gefühl nicht so ganz nach mir, viel­leicht hab ich ja "mords­mäßig" gesagt. OK, Hello­ween war ge­ra­de, lassen wir das Monster.

Denn was stimmt, ist die er­schrecken­de und mich selbst manchmal über­ra­schen­de Breite und Vielfalt dieser Allgemeinbildung. Wie ein Monster halt. ("Mordsmäßig" ist ei­gent­lich doof.)

Ich kränkle — wie so viele, seit die Heizperiode losging — und würde statt­des­sen lie­ber auf den Floh­markt gehen.

Dort fand ich neulich Politiker "im Dutzend billiger". "Käufliche Politiker" habe ich jetzt nicht gedacht, natürlich nicht. Und blödes Rumkalauern gehört zum Ge­schäft.

EDIT: Die Redakteurin verwies auf die ex­ak­te Mi­nu­te der Ton­auf­nah­me unseres Gesprächs. Ich habe tat­säch­lich "monstermäßig" gesagt.

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Foto: C.E. (Archiv)

Donnerstag, 31. Oktober 2019

Aus dem Archiv: Mademoiselle

Herzlich willkommen auf den Sei­ten des ersten deut­schen Web­logs aus dem In­ne­ren der Dol­met­scher­ka­bi­ne. Hier schreibt ei­ne Fran­zö­sisch­dol­metscherin über ihre Einsätze in Ber­lin, Paris, Cannes und anderswo. Neulich stellte ich alte Unterlagen zusammen. Dabei bin ich auf dieses Frühwerkchen gestoßen. Achten Sie mal auf die Anführungszeichen.

Ein früher Morgen in Paris. Wir drehen hier für Arte in der Stadt, in der ich vor 15 Jahren studiert habe. Mit Schwung betrete ich die Bäckerei, mit Elan bestelle ich die Croissants fürs Team — und mit einem « Voilà, Mademoiselle ! » reicht sie mir die Bäckerin.

2011 am Kiosk
Dieses « Fräulein » habe ich lange nicht mehr gehört. In Frank­reich ist es noch an der Tages­ordnung, aber warum bin jetzt ich, eigentlich unaus­ge­schlafen, « une made­moiselle »? « Sie haben so viel Ener­gie, sind so jugendlich, da kommt das Ma­de­moiselle ganz automatisch! », erklärt sich die Dame hinterm Tresen.

Made­moi­selle – das war ich bis zum Ende meines Stu­diums in Frank­reich. Als ich nach Deutsch­land gegan­gen bin, war ich von einem Schlag auf den anderen « Frau ». Das passte gut zum Alter, in dem man sich Res­pekt wünscht. Damals sagte in Deutsch­land kaum einer mehr
 « Fräu­lein ».

Einmal, noch im Studium, war ich zu Besuch in Berlin. Die Biblio­thekarin sagte in meine Rich­tung: « Frau Elias » – und ich drehte mich um. Ich dachte, jetzt steht meine Mutter hinter mir.

Das « Mademoiselle » ist aber nicht nur ein Kom­pli­ment für jugendliche Energie. Es ist Teil der Spra­che der Verführung und zeigt an, dass die betreffende Person weib­lichen Geschlechts noch « zu haben » ist. In Frankreich gibt es jetzt eine Be­we­gung gegen das « Ma­de­moi­selle ». Immer mehr Frauen em­pfin­den es als dis­kri­mi­nierend, als mache erst der Ehe­mann aus einer Frau eine Frau. « Mademoiselle » taucht indes sogar in offiziellen For­mularen auf, obwohl kein franzö­sisches Gesetz eine Unterteilung der Frauen in ‘verheiratet’ und ‘unverheiratet’ vorsieht.

In Deutschland ist das Fräulein inzwischen sogar politisch un­kor­rekt. Es ist fast aus­ge­storben. « Fräu-lein! » mit einer betonten Verlang­samung des betonten Um­lauts, das ist eine Drohung, die man­ches kleine oder größere Mädchen hier­zu­lan­de kennt. Übersetzt heißt es: « Mach’ was ich sage, oder es setzt Konsequenzen! »

Mademoiselle aber finden viele noch heute charmant. Man­che Fran­zösin hat aus der Familienstandsangabe einen Teil der eigenen Person gemacht. Mademoiselle Nathalie Baye durfte ich letztens in Berlin inter­viewen, ich war natürlich Frau Elias. Sie ist etwas jünger als meine Mutter. Das Gleiche hätte mir mit Ma­de­moi­selle Jeanne Mo­reau passiert sein können, die noch eine Generation älter ist.

Die berühmteste Mademoiselle von allen war aber Coco Chanel, sie hieß damals nur « Ma­de­moiselle », ganz ohne Namen.

Abends, wieder beim Bäcker, nach einem langen Arbeitstag eine Quiche: « Vous désirez autre chose, Madame? » 

* * *

Der Text entstand 2006 für La Gazette de Berlin. Nathalie Baye habe ich da­mals na­tür­lich gedol­metscht, nicht interviewt. Die Re­dak­tion fand aber, "in­ter­viewt" wirke be­deu­ten­der. Wie die franzö­si­schen Guillemets. Und ich hab' hier eng­li­sche An­füh­rungs­zei­chen, da der Anbeiter der Webspace, ursprünglich blog­spot.com, aus den USA kommt.
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Illustration: "Fräulein"

Dienstag, 29. Oktober 2019

Pressearbeit

Hallo, hier bloggt ei­ne Sprach­ar­bei­te­rin. Ich über­set­ze und dol­met­sche. Ar­beits­spra­chen: Fran­zö­sisch (aktiv und passiv) und Englisch (nur Aus­gangs­spra­che). Leider ist es unserem Beruf schwierig, Schü­ler­prak­ti­kan­ten an­zu­neh­men. Daher sage ich auch immer wieder ja, wenn ich für Print­medien interviewt werden soll.

Printausgabe des Interviews
Unlängst wurde ich von einer Journalistin interviewt. Dabei musste ich daran den­ken, dass ich früher selbst in die­sem Beruf gearbeitet ha­be. Außer­dem kam mir ein kur­zes Interview von vor zwei Jah­ren in den Sinn.

Hier hatte die Redak­tion lei­der im letzten Mo­ment die Ti­tel­zei­le ge­än­dert. Küns­tler­pech!

Dieses Mal bekomme ich das Inter­view vorab zur Über­prü­fung. Journalisten mögen das eigentlich gar nicht, diese Herausgabe von Druck­le­gung. Als Betrof­fe­ne und Ver­tre­te­rin eines hoch­kom­pl­exen Berufes habe ich das Angebot gerne an­ge­nom­men.

Hier der Link zur Onlinefassung des Artikels: taz vom 22./23. Juli 2017.
Und auch ich schrei­be meis­tens meine Über­schrift zuletzt.

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Illustration: die tageszeitung

Montag, 28. Oktober 2019

110 Blatt

Die Zahl des Tages: 110. Wir dol­met­schen und übersetzen in Berlin, Aus­gangs­spra­chen: Englisch und Französisch, Zielsprachen: Französisch und Deutsch. Meistens in den Bereichen Kultur, Wirt­schaft und Handel, Soziales und Politik.

Pult in der Dolmetscherkabine
Die Spitze des Eisbergs
110 Blatt für zwei Tage. Ge­hen wir von je acht ­pro­duk­ti­ven Arbeits­stunden aus, was recht optimistisch ist, haben wir 8,73 Mi­nu­ten pro A-4-Seite. Einige sind 1,5-zeilig be­schrieben, andere Power­Point­Präsentations"folien" mit 30 Zei­len, müsste 4-Punkt-Schrift sein. Bei 6 Punkt in ein­em Ver­trag schril­len bei al­len, die ich ken­ne, sämt­liche Glocken: un­seriös!

Zwei Tage vor der hoch­technischen Groß­kon­ferenz ploppen uns Doku­­mente ins Post­­fach, Texte, die wir seit zehn Tagen fast täglich anmahnen.

Bei sieben Arbeits­­tagen im Voraus hätten wir 30,5 Minuten pro A-4-Blatt gehabt. Das kann zu viel sein, aber auch zu wenig. Für eine hoch­­komplizierte Veran­stal­tung, die so kompliziert ist, dass ich keine Fach­frau/kei­nen Fach­mann in dem Feld kenne, kurz: Für ein Thema, in das wir uns komplett neu ein­ar­beiten dürfen, wäre so viel Zeit durch­aus in Ordnung.

Aller­dings wäre das auch eher unwirt­schaftlicher Auf­wand gewesen. Bei 800 Euro Dolmetscher­honorar pro Tag kämen wir dann bei insge­samt neun Arbeits­­tagen auf 22,22 Euro die Stunde. Das ist für eine Akade­­mikerin zu wenig. Viele Akade­miker werden allerdings schlech­ter bezahlt in Deutsch­land. Und wenn wir uns hier auf-wän-digs-tens in ein neues Gebiet einar­beiten, kann das durchaus später Dividende bringen, wenn wir nämlich genau wegen solcher Vor­kennt­­nisse gebucht werden.

Aber das Ganze ist ohnehin graue Theorie. Am besten wären diese Texte ab Mitte August bis Mitte September eingetroffen, noch in der Vor­saison. Gebucht waren wir seit März. Wir hätten Zeit gehabt. Schnelle Di­vi­dende ist in unserer Bereich nicht immer ein Thema. Aber der Mailbrief­­kasten war wochenlang gähnend leer. Und dann kam alles auf ei­nen Schlag. Das Internet verleitet zu viele dazu, auf den letzten Drücker ...

8,73 Minuten pro Seite. Mitten in der Hochsaison. DAS ist die bittere Realität unseres Berufs.

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Foto: C.E. [eine andere Konferenz]

Freitag, 25. Oktober 2019

Nichts

Willkommen beim Blog einer Spracharbeiterin. Ich verdiene meine |Brötchen| Croissants mit Übersetzen und Dolmetschen für Menschen aus der Politik-, Kultur- und Modewelt, Industrie und Handwerk. Hier schreibe ich über meinen Alltag.

Reserviert -- Dachnologie 2019
Dach + Technologie
Bei der Arbeit gibt es regelmäßig Mo­men­te, die ver­ges­sen worden wä­ren, hät­te ich sie nicht kurz auf­ge­schrie­ben. Auch ges­tern saß ich mit Bau­fach­leu­ten oft im Bus auf der Fahrt von Ge­­sprächs­ter­min zu Ge­sprächs­­ter­min. Zwischendurch sind wir auf Häu­ser­dächer geklettert.

Dabei sind wir quer durch Berlin gecuist. Wir kamen auch am Pots­da­mer Platz vor­bei. Martina, die die Reise ge­lei­tet hat, sagte, und dabei meinte sie die Mau­er­zeit: "Damals stand hier nichts!" Darauf meinte einer der Bauleute mit Blick auf die Neu­bau­trümmer, die links und rechts der Stra­ße fallengelassen wor­den sind, trocken: "Heute steht hier auch nichts!"

Vokabelnotiz
der Trumm, die Trümmer: Der Duden empfiehlt als Synonyme folgende Wörter: Apparat, Batzen, Brocken, Bruchstück, Monstrum, Stück, Ungeheuer, Ungetüm.
Im Plural laut- und buchstabengleich mit dem Wort "Trümmer" wie Steinhaufen, Rest, Bruchstück.

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Foto: C.E. (Solche Neologismen klin-
gen in meinen Ohren wie Kalauer)

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Dachdeckerfangschutznetz

Hallo, hier bloggt ei­ne Sprach­ar­bei­te­rin. Ich über­set­ze und dol­met­sche. Ar­beits­spra­chen: Fran­zö­sisch (aktiv und passiv) und Englisch (nur Aus­gangs­spra­che). Heute bin ich Berlin aufs Dach gestiegen.

Trousse de protection antichute pour couvreur — système à ligne de vie ho­ri­zon­tale ... verkürzt ist das auf Deutsch das "Dachdeckerfangschutznetz". Da fallen mir gleich zwei Gedichte ein. Das erste bringe ich die Tage, das zweite |Anfang| spä­ter im No­­vem­­ber. [Geän­derte Reise­route, der ent­spre­chende Bü­cher­schrank ist nicht greif­bar.]
Wieder habe ich neue Wörter in situ lernen dürfen. Mehr kommt hier in den kom­men­den Tagen. We are very busy, während die Kollegin im Office die nächsten Wochen plant.

Dachlandschaft mit Fernsehturm im Abendlicht
Mit Blick auf den Fernsehturm
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Foto: C.E.

Montag, 21. Oktober 2019

"Kulturfrequenzen"

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Ich denke über unser Arbeitsmaterial nach, die Sprache, und wie sie von A nach B kommt.

Das UKW-Radio rauscht im Kurzwellenbereich nur noch. Manche Sender sind gar nicht mehr in meinem Wohngebiet zu empfangen, rbb-Kulturradio zum Beispiel, anderes klingt abgehackt.

"Sie klingen so abgehackt!"
"Macht nur die Hälfte!", wür­de ein mir be­kannter Teen­ager jetzt statt "halb so schlimm!" sa­gen, denn ich hö­re inzwischen sowieso meis­tens nur Deutsch­land­funk Kultur sowie im Netz meine fran­zö­si­schen und englischen Sender France Culture und BBC4.

Dabei macht mich das Thema durch­aus nos­tal­gisch.

Hätte ich als Teenager irgendwo zwischen dem Schwarzwald und Stuttgart nicht Ra­dio France Culture ter­rest­risch rein­be­kom­men, lange vor Verbreitung des welt­wei­ten Netzes, ich weiß nicht, wo ich heute beruflich ste­hen würde.

Trotzdem lässt mich dieses Funk­wel­len­thema par­tout nicht los. Früher gab es dazu sogar komische Episoden. Wir Dol­met­scher funken auch oft, in sehr kleinem Rah­men, aber es sind ter­rest­ri­sche Funk­­wellen. Hier eine Pres­se­­mel­dung, die mich aufhorchen ließ.
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Pressemitteilung Deutscher Kulturrat
Bundesregierung muss auf der Weltfunkkonferenz in Ägypten 600 MHz-Band für die Kultur sichern

Berlin, den 21.10.2019. In einer Woche, am 28.10.2019, beginnt in Sharm El Sheik (Ägypten) die Weltfunkkonferenz WRC-19 mit mehr als 3.000 Teilnehmern. Hier könnten zum Schaden für den Kulturbereich in Deutschland weitere Rundfunk- und Kulturfrequenzen (600 MHz-Band) für den Mobilfunk geöffnet werden.
 
Das Fre­quenz­band zwischen 470 und 694 MHz wird der­zeit für die ter­rest­ris­che Rundfunk­verbreitung von audiovisuellen Medien einschließlich TV und Radio und den Einsatz drahtloser Pro­duk­tions­mit­tel (z. B. Funk­mi­kro­fo­ne) — die im Kul­tur­be­reich von hoher Be­deu­tung sind — genutzt.
 
Mit einer Öffnung des 600 MHz-Bandes für mobile Breit­band­diens­te würden diese Fre­quenzen de facto für Veranstalter aus der Kulturwirtschaft, öffentliche Thea­ter- und Orchester, soziokul­turelle Zentren sowie auch andere Kul­tur­ver­an­stal­ter wie beispielsweise die Amateurtheater langfristig nicht mehr zur Verfügung ste­hen.
Das würde den gesamten Kultur­bereich vor große Probleme stellen, weil es keine gleichwertigen Ersatz­frequenzen gibt, unabhängig von den dann erforderlichen Investi­tio­nen in neue Empfangs- und Produktionsgeräte.

Am vergangenen Mittwoch wurde im zuständigen Ausschuss für Verkehr und di­gi­ta­le Infrastruk­tur des Deutschen Bundes­tages ein Antrag der FDP-Bun­des­tags­frak­tion "Funkfre­quen­zen für Medien und Kultur dauerhaft erhalten" (Drucksache 19/11035) abgelehnt.

Ziel des Antrages ist es, die sogenannten Kultur­fre­quen­zen für Theater, Opern, Veranstaltungs­wirt­schaft sowie Rundfunk und Fernsehen zu sichern. Min­destens bis zum Jahr 2030 sollte es hier Planungs­sicherheit geben, bis dahin sollten die UHF-Frequen­zen (im Bereich zwischen 470 und 697 MHz) für Kultur und Medien be­ste­hen bleiben. Unterstützt wurde der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der AfD und der Linken, abgelehnt wurde er von CDU/CSU und SPD.
 
Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sagte: "Die Ab­leh­nung des FDP-Antrages durch die Regierungskoalition im Ausschuss für Verkehr und di­gi­ta­le Infrastruk­tur des Deutschen Bundes­tages ist bedauerlich und unver­ständlich.

In den vergan­genen Jahren gingen für den Kulturbereich durch die Verstei­gerung der Rundfunk- und Kultur­frequenzen an den Mobilfunk bereits die Hälfte der für unseren Sektor wichtigen Fre­quenzen verloren. Wenn der Abbau an Frequen­zen nicht gestoppt wird, ist die Funktionsfähigkeit von Kultur­einrich­tungen in Deutsch­land in Gefahr.

Neben den Theatern und Orches­tern sind viele weitere Ver­an­stalter, wie z.B. Kirchen, Stadthallen, sozio­kul­tu­rel­le Zentren, Volksfeste, die ebenfalls alle Funk­mi­kro­fone ein­setzen, unmittelbar betroffen.
Der Deutsche Kulturrat fordert daher die Bundes­re­gierung auf, sich bei der in der kommenden Woche beginnenden Weltfunk­konferenz in Sharm El Sheik dafür ein­set­zen, dass das 600 MHz-Band nicht für den Mobil­funk freigegeben und für den Kultur­bereich gesichert wird."
 
Deutscher Kulturrat e.V.
Taubenstr. 1
10117 Berlin
Web: www.kulturrat.de
E-Mail: post@kulturrat.de
 
Verantwortlich:
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
Quelle: www.kulturrat.de

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Foto: Archiv. Immer den Arbeitsschutz
berücksichtigen!

Sonntag, 20. Oktober 2019

Saisonwechsel

Bonjour und hallo! Hier schreibt ei­ne bin Kon­­fe­­renz­­dol­­metscherin und Über­set­ze­rin. Seit bald drei­zehn Jah­ren finden Sie hier Notizen aus mei­nem Sprach­all­tag. Sonn­tags werde ich privat.

Der Sound klingt nach Spätherbst: Graugänse, Silberreiher und Kraniche schnattern in V-Formation durch die Lüfte. Sie fliegen in ihr südliches Winterquartier. Um die 150.000 Zugvögel sollen im Großraum Berlin halt machen, um sich hier für den Wei­­ter­­flug zu stärken. Neulich hat mir ein Vogel­kundler erzählt, dass dabei immer mehr Kraniche in der kalten Jahres­­zeit in Berlin hängenbleiben. 



20 Grad an einem 20. Oktober, sowas nennt sich Klima­wandel. An der Südwand un­seres Hofgartens sind die Pas­sions­früchte so gereift, dass wir jetzt viel Saatgut fürs nächste Jahr ernten konnten. Die Zucchini blüht noch ein we­nig, die letzten To­ma­ten reifen, eine der Pflan­zen hat sogar neue Blüten aus­ge­bildet. 



Sehr aufmerk­sam beobachtet das Gartenteam das Wetter. Bislang hatten wir nur eine einzige Frost­nacht, da ging das Thermometer nur kurz unter Null, aber ir­gend­wann muss unser botanischer Garten ins Foyer. Au­ßer­dem habe ich zwei Oli­ven­­bäu­me in Schöneberg entdeckt, die her­ren­los vor einem seit Monaten ge­schlos­se­nen Geschäft stehen. Ich war schon einige Male zum Gießen dort, habe Müll aus den Töpfen ge­sam­melt, mit Kompost­erde ge­düngt. Wenn das so wei­ter­geht, wer­den wir die retten müssen. 



Reifung und Ernte von fast 100 Samen

Sonntag bedeutet, mit der Nach­barin in der Spät­vor­mit­tags­son­ne zu klö­nen und sich Ge­dan­ken übers Hof­grün des nächs­ten Jah­res zu machen, die Essensreste des Vortags aufzuessen, Mittags­schlaf zu halten, auf den Ufer­floh­­markt zu gehen und dort zwei, drei Bücher zu adoptieren. Dann im Café zu lesen und die Sonne zu genießen, bis sie um die Ecke biegt. Zwischen­durch wie jeden Tag zwei Mal zwei Stunden Vokabeln zu pauken, ein bekanntes Wortfeld zu beackern.

Irgendwie mutet das alles sehr dörflich an. Aber in einem echten Dorf könnte ich wohl nicht mehr gut leben. Das Hin­ter­land meines direkten Umfeldes hat es mir erlaubt, un­ter­schied­­liche Be­rufe auszuüben und mich regel­mäßig neu zu erfinden, ohne umziehen zu müssen. Darin ähneln sich übrigens Berlin und Paris, wo ich ja meine zweite Heimat habe.

Die Samen sind geschält und getrocknet. Wer ein be­heiz­ba­res (Fens­ter­bank-)Ge­wächs­haus sein ei­gen nennt und mir ei­ni­ge Zei­len darüber schreibt, wie er/sie Dolmetscher erlebt hat (mit möglicher Ver­öf­­fent­li­chung, wenn's passt), bekommt von mir zehn Sa­men per Post zu­ge­schickt. (So­lan­ge der Vorrat reicht.) Für die Aussat in der Zeit, wenn wir an die Rückkehr der Zugvögel denken ...

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Foto: C.E.

Freitag, 18. Oktober 2019

Fachbegriffe

Im 13. Jahr beschreibe ich hier meinen sprachbetonten Alltag. Ich bin Kon­fe­renz­dol­metscherin und Übersetzerin. Ein Teil unserer Arbeit besteht aus dem zähen Recherchieren und Aufnotieren von Begriffen.

Mir ist es eine Ehre, zu Wörter­büchern beizutragen. Einen Ein­trag werde ich die­ser Ta­ge bei Leo.org ergänzen.

Links Industrie, rechts Acker
Hier Industrie, dort Acker
Es heißt, das Wort habe Ap­ril 2015 das erste Mal im Amts­­blatt Jour­nal Officiel ge­stan­den (der Schnell­check brach­­te nichts): l'ar­ti­fi­cia­li­sa­tion des sols. Es geht um Böden, die durch den Bau von Stra­ßen oder das Er­rich­ten von Ge­bäu­den ihre (relative) Na­tür­lichkeit ver­lie­ren. (Flächen mit in­dus­tri­ellem Landbau gelten in dieser Stadt­pla­ner­lu­pe als na­tur­nah.) 

Vorab findet sich auf Deutsch (mangels umfangreichen Vor­be­rei­tungs­ma­terials) noch nichts an, was griffig wäre. Ich notiere erstmal Bo­den­de­gra­da­tion, Ver­sie­ge­lung, De­na­tu­rie­rung der Böden. Alles geht in die richtige Rich­tung, ist ver­ständ­lich. Versie­ge­lung, l'imper­méa­bi­li­sa­tion des sols, war lange der in die­sem Be­reich meist­ge­nutzte Be­griff.

Im gedolmetschten Gespräch mit Fachleuten vom Leibniz-Ins­ti­tut taucht die "Flä­chen­neu­in­an­spruch­nah­me" auf. OK, das ist lang, ein Wort­mons­ter, aber damit kann ich leben. Es wird halt so verwendet. Ich übe auf der Damen­toilette. Manche ver­kürzen das Monster zu Flächen­in­an­spruch­nah­me. Der Kontext ergänzt das "neu".

Zwischendurch amüsiere ich mich mit automatischer Übersetzung. Hier geht es um das Ausfransen urbaner Gebiete in den ländlichen Raum hinein und eben um diese Flächenneuinanspruchnahme.

Vous l'aurez compris. Aujourd'hui, le grignotage des terres agricoles en lisière des zones urbaines pose un grand problème. Bref, l'artificialisation des terres est un ravage méconnu. / Das wirst du verstanden haben. Heute ist das Naschen von landwirtschaftlichen Flächen am Rande von Stadtgebieten ein großes Problem.  Kurz gesagt, die Künstlichmachung von Land ist ein wenig bekannter Schädling.
Deutsche Version nach www.DeepL.com

Der "Schädling" passt immerhin ins Bild, wird hier aber im Übertragenen gebraucht. Und mit Du/Sie haben diese Programme meistens ihre Schwierigkeiten, weil nicht selten Englisch als "Pivotsprache" verwendet wird.

Und gleich noch ein Bonbon. Es geht um regio­nalen Anbau und kurze Ver­sor­gungs­ket­ten, wenn von circuits d'approvisionnement courts die Rede ist.

L'alimentation saine provient, dans les meilleurs des cas, du circuit court. / Gesunde Ernährung kommt im besten Fall aus dem Kurzschluss.
Deutsche Version nach www.DeepL.com

Regionale Versorgung mit Lebens­mitteln, der circuit court, ist sehr sinnvoll, die schnelle Umter­bre­chung des elek­tri­schen Stroms, der court-circuit, ist in einem anderen Sinn­zu­sam­men­hang wichtig.

Vokabelnotiz
Flächenneuin­anspruchnahme (acht Silben) — land take (zwei Silben) — arti­ficia­li­sa­tion des sols (neun Silben)

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Illustrationen: DeepL.com