Bienvenue auf den Seiten einer Spracharbeiterin. Seit 2007 berichte ich hier in loser Folge über das Arbeitsleben von Übersetzerinnen, Übersetzern, Dolmetscherinnen und Dolmetschern. Meine Sprachen sind Französisch, Englisch und natürlich auch Deutsch, meine Muttersprache. Es gibt Tage, da komme ich aus dem Kopfschütteln nicht heraus.
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Nichts Halbes und nichts Ganzes |
Im Januar wurde ich von einem mittelständischen Unternehmen aus Frankreich angefragt, das seine automatisch übersetzte Website samt Webshop verbessern lassen wollte. Kein Aufwand schien das in den Augen jener, die kein Deutsch können. Also fragte die potentielle Kundin: „Könnten Sie bitte mal kurz auf die Webseite schauen? Das geht schnell, dauert nur einige Minuten!“
(Pourriez-vous jeter un œil au site web, s'il vous plaît ? Ça sera rapide, en un rien de temps !)
En un rien de temps
Diese französische Redewendung setzt auf Kürze, hier wird „in einer Nichtzeit“ die Schnelligkeit betont, auf Deutsch: „im Nu“, „ganz fix“.
Ich atmete einmal tief durch und erklärte mit der Geduld, mit der ich zu einem bockigen Nichtlein spreche, dass dieses Zeugnis der Qualität automatisierter Übertragung vorschnell sei, dass das Ergebnis vom Ausgangstext abhänge, dass in den sehr vielen Fällen eine Überarbeitung mit professionellen Kriterien genauso viel Zeit in Anspruch nehmen dürfte wie eine Neuübersetzung, schlimmstenfalls sogar mehr. Langer Satz. So hab ich es nicht gesagt. Aber in kurzen Einheiten eben dann doch.
Das Gegenüber setzte zu einer großen Verteidigung des Auswurf dieser
Bits & Boons an, als würden wir über Kunstwerke aus der Hand ihrer Kinder sprechen, die sie Fachleuten anpreist. Dann kam der wunderbare Satz: „Könnten Sie nicht Ihren Professionalismus ein wenig ablegen und alles kurz einmal glattbügeln?!" Der Satz meint: bitte günstig! Es ging um
Money over Merit.
Bits & Boons
... statt Bits & Bytes: „Boon“ kann im Englisch sowohl „Segen“ als auch „Glücksfall“ oder „unerwartete Wohltat“ bedeuten. In der Altenglischen Sprache wurde es oft verwendet, um etwas Positives zu beschreiben, das durch Zufall oder Glück geschah.
Money over merit
Wem das Wort merit nichts sagt, der oder dem sagen die „Meriten“ vielleicht etwas, die es mit langem Studium, Verzicht und daraus resultierender Exzellenz zu gewinnen gilt. „Merit“ wurde auf Mittelenglisch verwendet, um die Güte oder den Wert einer Sache oder Person zu beschreiben. In neuerer Zeit ist der Begriff Merit Order oft in den Medien. Hier geht es (leider) nicht um ein Ordnungssystem, in dem die Klügsten das Sagen haben. Merit Order ist ein feststehender Begriff, der die Reihenfolge festlegt, in der Kraftwerke ihren Strom auf dem Energiemarkt anbieten, basierend auf ihren „Grenzkosten“.
Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten wie erneuerbare Energien werden zuerst eingesetzt, während teurere Kraftwerke (z.B. Gaskraftwerke) erst später hinzukommen, um den Bedarf zu decken. Als Preis für alles wird das übernommen, was der Strom aus dem teuersten Kraftwerk kostet, das zur Deckung des Gesamtbedarfs benötigt wird. Ende der Definition. Das Verfahren verzerrt den Preis, denn es geht von einem idealen, funktionierenden Markt aus.
Einschubende.
Um Money over Merit geht es also. Ich rufe die Webseitenbaustelle der potentiellen Kundin auf: Anstelle einer logischen Abfolge von Gedanken und Ideen, von fachlich und sachlich richtigen Beschreibungen, finde ich nur ein sprachliches Trümmerfeld vor. Stellen Sie sich ein Auto vor, dass als 3-D-Collage aus verschiedenen Bauteilen zusammengesetzt wurde, aus einigen echten Autoteilen von Schrottwagen, aber auch Bierkisten, Fenstertüren, einem Rettungsring aus Stypropor anstelle des linken Vorderrads, dem Motor einer Küchenmaschine unter der „Haube“. So ein Gefährt ist nicht TÜV-tauglich. Von dieser Qualität waren die Sätze.
Seit ChatGPT & Co. auf dem Markt sind, haben wir regelmäßig solche Anfragen. Die potentielle Kundin ist nur bedingt schuld, es ist vielmehr die „Geiz-ist-Geil“-Mentalität, die viele Köpfe vergiftet hat und die Inflation, die alle ermutigt, neues Einsparpotenzial auszuloten. Und schließlich sind es die KI-Nerds mit ihren Werbeabteilungen (oder Billigagenturen), die die Illusion befördern, dass echte, umfangreiche Profiarbeit für 'nen Appel und 'n Ei zu haben sei.
Sprung zurück in den Januar: Natürlich hatte ich die Dame über diese Fallstricke aufgeklärt. Sie hat sich bedankt und schien wirklich bemüht. Mein Angebot zur Neuübersetzung war sehr fair. Der Winter war ruhig, es gab zu viele freie Stunden und Abende neben der Angehörigenpflege. Kaum hatte ich die Mail abgeschickt, kamen mir Zweifel: War ich zu günstig?
Aber unbegründet: Nach einer Woche dann die Absage, es habe sich eine „wirtschaftlich interessante Lösung“ gefunden, schrieb sie.
Surprise, surprise
Heute schaue ich mal auf die Webseite der Nichtkundin. Und, tadaaa!, es ist schlimmer als ich befürchtet hatte: Der komplette Murks ist jetzt öffentlich zugänglich. Ich finde im Angebotsdossier noch die Word-Datei, die ich für das Zählen der Anschläge erstellt hatte, überfliege alles, sehe kaum Unterschiede zum KI-Auswurf aus dem Januar. Ich weiß nicht, wer da wo "tätig" gewesen sein soll. Bei näherem Hinlesen ist hier ein Synonym ersetzt, sind dort drei karge Sätzlein zu einer langen Aussage gekoppelt worden, ein gutes Dutzend Gedankenstriche gestrichen und zwei Mal „weiß“ durch „hell“ ersetzt worden, solche Sachen. Manche Beschreibung steht weiterhin unberührt da in ihrer Trümmerhaftigkeit, wie ein Mahnmal für automatisiertes Bullshit-Bingo.
Für ihr un rien de temps, „ein Nichts an Zeitaufwand“, wird die Dame wohl „drei Mal nichts“ bezahlt haben, trois fois rien.
Einen großen Unterschied allerdings dürfte der Umsatz machen. Noch lässt sich alles auf die Krise schieben, auch in Frankreich. Schreibe ich der Dame, sage ich es ihr?
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Foto: pixlr.com (Zufallsfund)