Bonjour, hello & guten Tag! Hier lesen Sie in Berichten aus dem Leben von Übersetzerinnen, Übersetzer, Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Ich bin Französischdolmetscherin und arbeite auch mit Englisch (das Idiom Shakespeares nur als Ausgangssprache). Sonntags werde ich privat, aber meine Gedanken sind das heute gar nicht.PRESSELEKTÜRE am Sonntag. Der Vizekanzler fällt beim Parteitag in der Zustimmung der eigenen Partei zurück. Eines seiner Wahlversprechen — der Mindestlohn von 15 € — bleibt bislang unerfüllt. Es wirkt, als setze sich in der Koalition vor allem die stärkere Kraft durch. Kleine und mittlere Einkommen geraten aus dem Blick. Doch bräuchten wir jetzt eine Politik, die breiten Rückhalt findet, über alle Lager hinweg.
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Gesehen in Berlin |
Gleichzeitig wird angekündigt, dass Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus zwei Jahre lang keine Angehörigen nachholen dürfen. Das trifft überwiegend Frauen und Kinder. Es fällt schwer, diesen Schritt mit christlichen oder humanitären Werten zu vereinbaren.
Im Land sinkt die allgemeine Lebenszufriedenheit, das zeigen Umfragen.
Versprochen wurden mit der Globalisierung steigende Einkommen für alle. Die Inflation jedoch zehrt sie auf. Die Lebensmittelpreise sind seit Beginn des Kriegs in der Ukraine um fast 50 % gestiegen, die Mieten im letzten Jahrzehnt gar um mehr als 100 %. Die Zahl der Menschen, die zur Tafel gehen, steigt stetig.
(Aus meiner Sicht, ich bin in den 1970ern aufgewachsen, war die soziale Ungleichheit damals weit weniger spürbar. Die „Tafeln“ heute erinnern mich an Almosenverteilung. Die Versorgung der Schwächsten gehört in staatliche Verantwortung.)
1989 ZERBRACH der Ostblock. Im Westen hieß das Gegenmodell „soziale Marktwirtschaft“. Damals war es selbstverständlich, den Unterschied zur DDR sichtbar zu machen, nicht nur durch Worte, sondern durch konkrete Politik. Heute wirkt vieles davon vergessen. Der soziale Wohnungsbau wurde zurückgefahren, öffentliche Verkehrsmittel vernachlässigt, Bildungseinrichtungen differenzieren stärker denn je.
Für Kinder hängt der Bildungserfolg von Herkunft und Geldbeutel der Eltern ab, und das so stark wie sonst in kaum einem entwickelten Land (Quelle: OECD). Die Ideen von Chancengleichheit und Aufstiegsversprechen sind Geschichte.
Die Globalisierung brachte günstige Energie und günstige Waren, aber nur auf den ersten Blick, weil wir die Folgekosten ausklammern. Zugleich sind die ökologischen Belastungen unübersehbar geworden. Das Wissen darüber war längst vorhanden, es wurde nur selten nachgefragt.
Heute ist Energie teuer, die Schäden an der Natur betreffen uns alle. Trotzdem wird noch immer gegen einen Wandel angearbeitet. Teile der Presse spielen dabei eine fragwürdige Rolle, zu groß ist der Einfluss bestimmter Interessengruppen. Der Journalismus wurde in den letzten Jahrzehnten ausgehöhlt: Weniger Zeit, weniger Recherche, weniger Unabhängigkeit. Und in den sozialen Medien lässt sich Meinung leicht manipulieren ... durch Kampagnen, Bots und gezielte Stimmungsmache.
ICH BIN DANKBAR. Durch den Berufswechsel habe ich mehr Zeit zum Einlesen. Auf meinen Reisen als Dolmetscherin durfte ich Dörfer sehen, in denen Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv geworden sind. Energieprojekte, die Wind- oder Biogasanlagen betreiben, Photovoltaik fast überall, sogar auf Buswartehäuschen. Der Strom versorgt die Nachbarstadt mit. Neue Arbeitsplätze entstehen, die Raiffeisenstützpunkte bleiben erhalten. Ein Stück regionale Identität kehrt zurück, etwa durch Saatgutinitiativen.
In einem Ort konnte durch die Einnahmen aus Bürgerenergie das Kulturhaus saniert werden, namhafte Künstler gastieren dort. Ein leerstehendes Gebäude wurde zur Dienstwohnung für ein Ärztepaar, das die verwaiste Praxis übernahm. Menschen zogen zu, darunter Familien und Ältere. Seit der Pandemie ist Homeoffice für viele Alltag. Die Dorfkultur blüht wieder auf, Schule, Feuerwehr, Fußballverein; sogar eine Marktgärtnerei und einen genossenschaftlich betriebenen Dorfladen gibt es nun. Ein pendelnder Bäckereiangestellter nutzt samstags das historische Backhaus für echtes Landbrot.
ERFOLGSGESCHICHTEN sind kein Zufall. Die Technik für dezentrale Energieversorgung schreitet voran. Auf Umweltmessen sehe ich regelmäßig Neuerungen, z. B. kleine, leistungsstarke Windturbinen in Form von Dachreitern auf Privathäusern. Der Markt entwickelt sich rasant, dort, wo er gelassen wird.
Andere Branchen verlieren an Bedeutung: industrielle Nahrungsmittelproduktion, internationale Saatgutkonzerne, die fossile Energiebranche. In einem Dorf werden Landmaschinen und inzwischen auch Autos gemeinschaftlich verwaltet. Niemand verteufelt dort die Errungenschaften der Moderne. Sie werden nur anders genutzt.
Diese Dörfer zeigen: Attraktive Gemeinden entstehen nicht zufällig. Sie sind das Ergebnis klarer Entscheidungen. Und oft steckt bürgerliches Engagement dahinter. Ich möchte mancher staatlichen Stelle Danke sagen, denn durch meine Dolmetscharbeit auf Reisen wurden mir in letzten Jahren viele Perspektiven eröffnet.
Der Entzug von Anschubsubventionen oder sogar neue Steuern auf nachhaltige Energien drohen derzeit allerdings den neuen Technologien den Garaus zu machen. Unverständlich bis heute: wie eine Partei, die sich konservativ nennt, so die deutsche Solarindustrie zerstört hat.
ZURÜCK IN DIE GROSSSTADT. Als Lernhelferin für Jugendliche mit anderer Familiensprache als Deutsch erlebe ich, wo Strukturen fehlen: ruhige Lernorte, Freizeitangebote, Räume für Entwicklung. Die Idee: Bei Schulneu- und Umbauten einen zweiten Eingang schaffen zur Schülerbücherei, Küche, Gruppenräumen, offen auch in den Ferien, betreut von Sozial- und Kulturarbeiter:innen.
Derzeit sehen wir das Gegenteil: in Berlin wurden hier fürs nächste Schuljahr für diese Arbeit Gelder gestrichen. Manches Hortteam wird inzwischen ehrenamtlich aktiv, um Kindern zu helfen, die in den Ferien in Berlin bleiben. Dabei ist die staatliche Finanzierung von Ferienlagern wichtig. (In manchem Bundesland sind hier mutmaßlich verfassungsfeindliche Gruppierungen aktiv.)
Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt unterhalb oder an der Armutsgrenze, so die Bertelsmann-Stiftung. Rund 3,3 Millionen Berufstätige brauchen laut Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich Bürgergeld. Die Mietbelastung steigt, Zuschüsse sind gedeckelt. Manche Eltern verzichten stillschweigend auf Mahlzeiten, damit die Kinder ein stabiles Umfeld behalten. An Kindern, an der Bildung zu sparen, halte ich für ein Verbrechen. Wir brauchen jedes Talent. Sie sind unser einziger Rohstoff.
DEUTSCHLAND ist ein reiches Land. Umso mehr fordern inzwischen auch Menschen aus bürgerlichen, kirchlich oder humanistisch geprägten Milieus deutliche Veränderungen. Der Einfluss extrem Vermögender muss eingehegt werden. Ihr übermäßiger CO₂-Ausstoß, ihr Zugriff auf politische Entscheidungsprozesse beschädigt Demokratien, siehe USA. Jüngstes Symbol: die private Feier eines der Tech-Milliardäre, die halb Venedig tagelang lahmlegt.
Auch in Deutschland braucht es stärkere demokratische Kontrolle. Haushaltsgelder wie der KTF, ursprünglich zur Förderung von Klimaschutz und Infrastruktur vorgesehen, dürfen nicht umgelenkt werden, schon gar nicht einseitig zugunsten jener, die ohnehin über Ressourcen verfügen. Wer Klimaneutralität bis 2045 torpediert, verstößt gegen das Grundgesetz. Auch wer das Soziale ausklammert, also den weniger Begüterten Unterstützung verweigert, verfehlt das Ziel.
Der Begriff konservativ stammt vom lateinischen conservare ab, bewahren, erhalten, behüten. Ursprünglich ging es um das Festhalten an dem, was sich bewährt hat, nicht um blinde Ablehnung des Neuen. Echter Konservatismus schützt Grundlagen, ermöglicht Weitergabe und Zukunft, nicht Stillstand. Ihm gegenüber steht das Disruptive, vom lateinischen disrumpere, „zerreißen, zerschlagen“, also das Aufbrechen bestehender Strukturen, oft ohne Rücksicht auf Verluste.
Doch wer heute wirklich bewahren will, muss sich dem Wandel stellen. Wer an überkommenen Strukturen festhält und Fortschritt verhindert, verrät den konservativen Geist. Zukunftssicherung ist das neue Bewahren.
EDIT. Kaum war der Beitrag fertig, kam diese Meldung: Für den Klimasozialplan kann Deutschland 5,3 Milliarden Euro EU-Zuschüsse beantragen, ergänzt durch natürlich erforderliche Bundesmittel. Der Antrag muss bis zum 30. Juni 2025 bei der EU-Kommission eingehen. Bislang liegt keine Einigung auf konkrete Entlastungen der Bürger:innen vor, für die die Mittel eingesetzt werden könnten. Ohne Einreichung verfallen die Zuschüsse.
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Foto: C.E.