Montag, 25. November 2019

Frische Luft!

Willkommen beim Blog aus der Arbeitswelt. Wie Dolmetscher und Übersetzer ar­beiten, ist oft nicht gut bekannt. Darüber schreibe ich hier sowie über an­gren­zen­de Berufe — zwi­­schen Hirnforschung, Ghostwriting und Tontechnik. Diese Berufe haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Daher werfe ich auch manchen nicht ernstgemeinten Blick zurück.

Luft ist wichtig für die kleinen grau­en Zel­len. Ich liebe alte Bü­ros und dort die Mög­­lich­keit, die Fenster aufreißen zu können — wie hier bei dieser Bau­haus­fas­sade aus den 1920-ern. Wir sehen zwei Mit­ar­bei­ter eines High-Tech-Labors der da­ma­li­gen Zeit; hier werden Mi­kro­fo­ne getestet. Die Mit­ar­bei­te­rin schaut sich zwi­schen­durch Ver­gleichs­er­geb­nis­se auf ihrem Smart­phone an.

Arbeitswelt in den 1920-er Jahren
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Foto: Eigenes Archiv (zum Vergrößern
in ein zweites Fenster laden)

Sonntag, 24. November 2019

Koffein

Was und wie Über­setzer und Dol­met­scher arbeiten, können Sie hier mitlesen. Die meis­ten von uns sind selb­stän­dig, sie ar­beiten selbst und ständig. Gerade jetzt im Herbst bleiben oft kaum Pausen im Konferenzbetrieb. Sonntagsbilder!

Kaffebohnen, -mühle und -kocher
Draufsicht im Licht der morgendlichen Glühbirne
Bis Frei­tag­abend war ich im Ein­satz, Sams­tag dann Er­ho­lungs- und Haus­halts­tag, Sonn­tag wird wei­ter­ge­lernt, weil ab Mon­tag neue Kon­fe­ren­zen und De­le­ga­tio­nen und Pres­se­in­ter­views an­ste­hen. Wie schön, dass wir un­se­re le­ga­len Sti­mu­lan­tien ha­ben. Mor­gens trinke ich ger­ne Kaf­fee, dann mu­tiere ich ab dem spä­ten Vor­mit­tag zur Tee­trin­ke­rin.

Teekannen auf Stövchen
Grün- und Schwarztee im Nachmittagslicht
Dazu ge­nie­ße ich ab und zu fast ro­he Scho­ko­la­de, sehr hoch­pro­zen­ti­ge, die die Kof­fe­in­do­sis wun­der­bar er­gän­zen kann.
Pro­gramm heu­te: Ein we­nig gärt­nern, et­was nä­hen, ein My Mu­se­um, dann Über­set­zungs­be­spre­chung mit ei­nem bil­den­den Künst­ler für spä­ter im Jahr, Vo­ka­bel­ler­nen und Vor­trä­ge vor­be­rei­ten. Ein völ­lig nor­ma­ler Sonn­tag!

Andere Dro­gen sind für das Gros der Dol­metscher tabu. OK, also ab und zu etwas Wein oder Bier. Und Sport, was eine Droge sein kann, und Luft und Lie­be. Dol­met­schen ist ein in­tel­lek­tu­el­ler Hoch­leis­tungs­sport. Wir füh­ren das Le­ben von Leis­tungs­sportlern. Aber nur mit le­ga­lem Doping.

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Fotos: C.E.

Donnerstag, 21. November 2019

Ausschreibungsarithmetik

Willkommen beim Blog einer Spracharbeiterin. Über die Welt der Übersetzer und Dolmetscher berichte ich hier. Ich arbeite in den Bereichen Politik-, Kultur- und Modewelt, Industrie und Handwerk. Hier schreibe ich über meinen Alltag.

Kiesel mit weißen Adern
Meditationsobjekte
Aus­schrei­bungen sind in viel­facher Hin­sicht nervig. Meistens kosten sie viel Zeit, in­des sind die Chancen, den Zu­schlag zu be­kom­men, nicht einmal grob ab­schätz­bar. Dabei sind die Regu­larien von Land zu Land unter­schiedlich. In Kanada wird der Zweit­bil­ligste genom­men, in der Schweiz der Mittel­wert aller Ange­bote er­rechnet und dann be­kommt dasjenige den Zu­schlag, das am nächs­ten dran liegt.

So ist diese Aufgabe manch­mal dem Lot­to­spie­len ähnlich. Mit bes­se­ren Ge­winn­chan­cen na­tür­lich. Anstren­gend wird es, wenn wir nicht einmal die po­ten­tiel­len Kun­den be­fra­gen kön­nen, wo­rauf genau in wel­cher Wer­tung ge­ach­tet wird.

Denn die Ent­schei­dungs­fin­dung hand­habt hier­zu­lan­de je­der an­ders. Al­so ha­be ich mal wie­der ei­nen Tag nur mit Aus­schrei­bungen ver­bracht. No risk, no fun. Wobei die Ch­ose ja gar nicht ris­kant ist. Der größ­te Ver­lust, den ich einge­hen kann, ist die ei­ge­ne Zeit.

Zwischen­durch, und das mag ich am Arbeiten im heimi­schen Arbeits­zimmer, habe ich mich Haus­halts­themen gewidmet. Und über Ordnung nach­gedacht. Un­ord­nung ist Ma­terie am falschen Ort, habe ich mal wo gehört. Die wei­ßen Adern dieser Stei­ne zeich­nen eine Li­nie, die keinen geschlossenen Kreis bilden. Das Be­trach­ten von Kie­seln ist mit­un­ter genauso ziel­füh­rend wie die Be­tei­li­gung an Aus­schrei­bun­gen. Auf jeden Fall be­ru­hi­gen­der.

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Foto: C.E.

Mittwoch, 20. November 2019

Auf dem Schreibtisch (LIX)

Guten Tag, bon­jour & hel­lo auf mei­nen Blog­sei­ten aus der Ar­­beits­­welt! Hier ver­öf­­fent­­li­che ich kurze (anonymisierte) Episoden aus meinem viel­sei­ti­gen All­tag, Gedanken zu Kultur und Sprache sowie Hinweise zu meinen Arbeitsfeldern.  

Arbeitsplatz
Im Morgenlicht
Heute wieder: Blick auf den Schreibtisch, was mich in den nächsten Wo­chen er­war­tet. Man­che Vor­be­rei­tung ist län­ger­fris­tig. Weil immer kurzfristig etwas reinkommt, steht an 1. Stelle:

⊗ Aktuelle Politik
... gefolgt von:
⊗ Sozialer Dialog in D'land (für eine ME­NA-De­le­ga­tion)
⊗ Französische Vorstadt im Kino­film
⊗ Bauhaus-Jubiläum
⊗ Agrarökologie im Senegal
⊗ Kongo: Demokratie und Pers­pek­ti­ven
⊗ Entwicklungsprojekt in Re­gen­wald­zonen
⊗ Großküche: Flächenaufteilung
⊗ Eigene Schreibprojekte (Kinderbuch)


Das sind Themenbeispiele aus der Praxis. In viele weitere Bereiche habe ich mich in den letzten Jahren eingearbeitet und bin immer wieder gespannt auf Neues.

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Foto: C.E. (Archiv)

Dienstag, 19. November 2019

Terminhassle (2)

Was und wie Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer (und Dolmetsche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen) arbeiten, darüber berichte ich auf diesen Blogseiten im 13. Jahr. Wir sind mitten in der Hochsaison der Konferenzen.

Neu­lich bin ich ja tat­säch­lich zu einem Wieder­se­hens­ter­min nach 20 Jah­ren einen Monat zu früh im Café erschienen. Auf die 20 Jahre bezogen ist es fast pünkt­lich. Aber eben leider doch vor­bei.

Lampenfuß, Kalender, Eiffelturm, Monitor, kleine Metalltruhe (Büroklammern)
Sekretär im Mittagslicht
Für einen an­deren Ter­min, zu dem ich am 21.11. gebucht bin, suche ich jetzt schon län­ger Infor­mations­material, weil über den Kol­legen, über den das läuft, so gar nichts rein­kommt. Da­bei schwant mir so lang­sam, dass der Ter­min gar nicht 2019 statt­fin­den könnte, sondern 2020.

Auch für Juli 2020 steht schon ei­ni­ges im Ka­len­der.

OK, calm down. Nach die­sem Ver­such der Selbst­be­ruhi­gung räum ich mal weiter den Schreib­tisch auf. Der hat's nach den tur­bu­len­ten Kongress­wo­chen näm­lich nö­tig. Dabei ist das gerade nur eine klei­ne Ver­schnauf­pause.

EDIT: Der Termin dieses Jahr war nicht zustandegekommen. Eine französische "Lange Nacht der Philosophie" findet in Berlin frühestens am 21.11.2020 statt. Dann habe ich ja ein weiteres Jahr, um mich einzuarbeiten. Auch schön.

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Foto: C.E.

Montag, 18. November 2019

Buchungsaufwand

Bonjour, welcome, guten Tag! Hier bloggt eine Dolmetscherin und Übersetzerin. Was wir arbeiten, wie das geschieht und wie wir anzusprechen sind, ist für Au­ßen­ste­hen­de oft ein Buch mit sie­ben Sie­geln. Dabei ist es ganz einfach.

Freiberufliche Dolmetscher stellen in unserer Branche den Premium­markt dar. Wir haben fünf bis sieben Jahre studiert, auch im Aus­land, oder ha­ben nicht selten be­rufs­be­dingt mehrere Wohnsitze.

Bei Klas­sen­tref­fen treffen wir gelegentlich die Mit­schü­ler von einst, die viele Jahre vor uns ins Berufsleben eingetreten sind. Unsere festan­gestellten Alters­ge­nossen erhalten nicht nur Urlaubs-, Kranken- und Weihnachts­geld, sie dürfen künftig mit der gesetz­li­chen Rente rechnen, bis dahin trägt ihr Arbeitgeber die an­fal­len­den Kosten für Arbeits­­­platz und Fortbildungen.

Wir Dolmetscher erwirtschaften das selbst. Das ist der Grund dafür, dass unsere Ho­no­rar­sätze einigermaßen hoch sein müssen. Heute sind sie zu niedrig. Im Zuge der allgemeinen deutschen Lohn­zu­rück­hal­tung wurden sie in den letzten 25 Jahren knapp an die Inflation an­ge­passt. Mit dem steigenden Arbeitsaufwand halten sie auch nicht Schritt. Denn wo wir früher drei, vier Tage lang für einen Kon­gress ge­dol­­metscht haben, wer­den wir heute oft nur noch einen, manchmal zwei Tage ge­bucht. Die Sessions sind dichter und kürzer geworden, die Tage länger.

Daher sind unsere Kunden gut beraten, uns Sprach­dienstleister direkt zu buchen. Denn werden wir Dolmetscher über den Zwischenhandel angefragt und als Sub­un­ter­neh­mer verpflichtet, fehlt das Geld für diese Rücklagen, die anderswo unter "Arbeitgeberanteile" und Sozialabgaben fungieren.

Für mehrtägige Einsätze, gerne auch mit mehreren Sprachen, ist es sinnvoll, eine Kol­le­gin/einen Kol­legen als be­ra­ten­de(n) Dolmetscher/in zu verpflichten — und die­sen Aufwand auch gesondert zu vergüten. Wir buchen, wen wir aus eigener Er­fah­rung kennen. Und wer selbst in der Ka­bine sitzen wird, achtet bei den Kol­le­gin­nen auf hohe Qualität.

Money makes the world go round
Diese Be­ra­tung be­rechnen auch die seriösen Agen­­­tu­ren extra. Ich durf­te in­zwi­schen ei­ni­ge we­ni­ge ken­­nen­­­ler­nen.
Einmal haben wir in drei Sä­len jeweils fünf Ka­bi­nen bes­challt, Ex­kur­sio­nen kamen noch hin­zu. Wir waren froh, dass da jemand nur für un­se­re Ab­lauf­planung zustän­­dig war. Auch hier erfolgte die Kol­le­gen­aus­­wahl über un­se­re konkreten Em­pfeh­lungen.

Sie buchen also, wen sie vom Hören­sagen kennen. In der Regel sind diese Agen­tur­mit­ar­beiter aber keine Dolmetscher.

Blind bucht die dritte Kategorie auf dem Markt, die zahlreichen Fir­men, die eine "Agentur" si­mu­lieren. Hier sind Gän­se­füßchen durchaus angebracht, denn Stock­fotos und Brief­kas­ten­adresse sind genauso schnell im Internet gekauft wie eine Domain. In der Folge erleben wir Spracharbeiterin­nen keinen Mehr­wert durch diese Makler, die aber für den er­schwer­ten Kontakt zum Kunden — unsere Fragen nach Vor­be­reitungs­­material ver­hallt zumeist ungehört — einen nicht unerheblichen Pro­zent­satz unserer Ho­no­rare beanspruchen, das können schon mal 35, 50 oder mehr Prozent sein. Für solche Makler arbeiten erfahrene Kolle­ginnen eher nicht. Damit ist die Buchung über solche Sprach­dis­counter immer ein Vabanquespiel für die Kunden.

Damit schaden derartige Firmen den Kunden und der ganzen Bran­che, denn sie ha­ben oft vom Dolmet­schen recht wenig Ahnung, weil sie vor allem Kauf­leute sind. Deshalb beraten sie Kunden auch nicht zu selten falsch. Zwei bis drei Stunden Prä­sen­­ta­­tio­­nen und Diskus­sions­beiträge verdolmetscht auf Konfe­renz­niveau nie­mand von uns ohne Kollegin oder Kollegen.

Dol­met­schen ist Team­arbeit und äußerst for­dernd für das Gehirn. Sollte Ihnen ein Un­terneh­men eine Solo-Kollegin (*) anbieten, handelt es grob fahr­läs­sig. Denn eine der­ar­ti­ge neu­ro­lo­gi­sche Über­­for­de­rung kann unter Um­stän­den ir­re­ver­si­ble Schäden auslösen, für die der End­kunde dann haftbar wäre. Ich deute nur an: Ein britische Kol­legin sitzt nach einem bei solcher Über­an­spru­chung erlittenen Aneu­rysma im Roll­stuhl.

Also Augen auf bei der Buchung! Als Teil verschiedener Netzwerke kann ich sagen: Wir beraten Sie gerne.

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Foto: Jeremy Lynch
(*) oder einen Kollegen

Freitag, 15. November 2019

Schlagfertig (1)

Was Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer (und Dolmetsche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen) so umtreibt, davon können Sie hier einen kleinen Eindruck er­hal­ten. Im 13. Jahr blogge ich über meinen höchst sprachbetonten All­tag. 

Gestern, am Rande meines Einsatzes in einem Fünf-Sterne-Hotel, als ich eine hoch­ran­gige Persön­lichkeit gedolmetscht habe, fragt doch ein deutscher In­dus­tri­el­ler: „Was kostet denn so ein Abend­essen mit Dol­metscherin?“ Ich: „Von 800 Euro an aufwärts.“ Er: „Das ist ja teu­rer als mit einem Escort-Girl!“ Ich: „Dafür gibt‘s hier mehr Auf und Ab — und mehr Zun­gen­fertigkeit!“ Er: „Und mehr Schlag­fer­tig­keit!“ Ich: „Sie sagen es.“

Abgedroschen heißt das "eine Luxusherberge"
Oder hätte ich andere Schlag­fer­tig­keit be­weisen und den Herrn ohr­feigen sollen? Auf jeden Fall ist es schade, dass man­che Menschen nichts aus den Me too-Debatten gelernt zu haben scheinen. Und die Ver­­samm­­lung war ins­ge­samt so, dass ich die Ansprache: "Meine Da­­men und Herren" ruhig als "Mei­ne Her­ren" hätte dol­met­­schen können.

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Bild: Wikicommons, Unbekannter Grafiker,
Central-Hotel, Friedrichstraße, Berlin.

Montag, 11. November 2019

Der Schneemann in der Sonne

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Heute: Das mnemotechnische Pausengespräch.

Ein Fachgespräch irgendwo im Regierungsviertel. Der Weg zur Toilette führt uns ins Treppenhaus, zurück geht es nur mit Türcode. Der steht auf einer Wandtafel: 8340.

Ein Kollege verkneift sich den Klo­gang. Er sagt, er könne sich keine Zah­len mer­ken. Hej, das ist doch mein Satz!, denke ich. Er war es lange.

Wir sind in der Kaffeepause. Ich gebe den Code aus der Er­in­ne­rung wie­der: "8340. Ist doch ein­fach." Für den Kol­legen über­set­ze ich ihn kurz in ein Bild: "Ein ganzer Schnee­mann sitzt mit einem halben Schnee­mann auf dem Stuhl und schmilzt in der Son­ne."

Als Kind hatte ich große Prob­leme mit Zah­len. Ich bin Linkshänderin, wurde aber "umge­schult" auf rechts. Natür­lich ging das gut, Gehirne sind plastisch. Lei­der ha­be ich seit­dem eine leichte Rich­tungs­störung. Wo ist rechts, wo ist links? Da mein Vater die­sel­ben Schwierig­kei­ten kennt, wurde in der Fa­milie mit den Achseln ge­zuckt und zur Tages­ordnung über­ge­gangen.

Diese Symbole stehen für eine Jahreszahl
Also war ich alleine mit den Problemen. Sechs und neun, Kreis mit Schwänz­chen dran, einmal hoch, einmal runter. Welcher ist mehr wert? Die Drei ist ein in Spie­gel­schrift ge­schrie­benes Schreib­schrift-E, au­ßer­dem als Symbol eine halbe Acht, aber mathe­matisch nicht. Der Onkel hatte einen digi­talen Wecker, die Zahl vier sah aus wie ein Stuhl, der auf dem Kopf steht. Ich fing an zu sammeln.

Null — Sonne, Eins — Kerze, Zwei — Schwan, Drei — halber Schneemann, Vier — Stuh, Fünf — Handschuh, Sechs — Schnecke (Haus unten), Sieben — Fahne, Acht — ganzer Schneemann, Neun — Lupe (Griff unten)
Grundlage für Bildergeschichten

Da ich nicht mit den Fingern rechnen sollte, die Pädagogik der 1970er Jahre fand das nicht empfehlenswert, habe ich mir Symbole ausgedacht. Und Jahrzehnte später bin ich überrascht, dass das nicht alle gemacht haben.

In Berlin-Mitte geht der Kollege dann doch aufs Klo. Es klappt auch ohne Code, denn er hat ja uns in Sichtweite fürs Türeöffnen.

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Illustrationen: C.E.

Samstag, 9. November 2019

Der blaue Wintermantel

Bonjour, hello, guten Tag. Hier bloggt eine Übersetzerin und Dolmetscherin (Schwerpunkt DE und FR). In meinem Arbeitstagebuch schreibe ich über Sprache, Länder und Leute. Heute: Wie ich beinahe den Mauerfall verpasst hatte, obwohl ich damals als Pariser Studentin den Novemberanfang in Berlin verbracht habe.

Mauer in Kreuzberg, September 1989
Plötzlich hing er an einem Klei­der­stän­der auf der Stra­ße, der tauben­blaue Man­tel aus dicker Wolle mit Kasch­mir mit wun­derbar großen Knöp­fen und einem brei­ten Kragen zum Hoch­schla­gen.
Er wirkte ebenso zeitlos wie modisch. Auf den ersten Blick schien er mir trotz­dem unpas­send und zu winterlich für den Herbst zu sein.

Denn seit Wochen war es für die Sai­son zu warm ge­we­sen. In Leip­zig und auch Ber­lin gingen Menschen­mas­sen auf die Straße, die vielleicht bei schlechten Wit­te­rungs­be­din­gun­gen weniger groß gewesen wären.

Eigentlich brauchte ich so ein dickes Möbel nicht. In Paris, wo ich da­mals studiert habe, waren die Winter milder. Aber wer wusste denn schon, wie sich das Wet­­ter in die­sem No­vem­ber ent­wickeln würde. Auf dem Weg ins Literatur­haus in der Fa­sa­nenstraße war die Preis­re­duk­tion von 200 auf 49 DM schließlich aus­schlag­ge­bend.

Damals habe ich im vierten Jahr in Paris studiert und steckte in einer Phase, in der ich nur mit halbem Tempo studiert habe. Seit meinem Berufs­prak­ti­kum Sommer 1988 war ich eine der jüngs­ten freien Mitar­beiterinnen des Sen­der Freies Berlin (wenn nicht die jüngste). Im Som­mer die­ses Jahres hatte ich offiziell als Kul­tur­kor­res­pon­den­tin aus Paris über die Zwei­hun­dert­jahr­feiern der Franzö­sischen Re­vo­lu­tion berichtet.

Da fand in der Woche ab dem 6. November in Berlin eine Hörspiel­konferenz statt, die "Hörspieltage", ich also hin. In der wunderschönen Litera­tur­haus­villa in Ku­damm­nä­he haben wir den ganzen Tag Hör­spiele gehört und diskutiert. An­schlie­ßend sind wir nicht selten zusammen essen gegangen.

Am Abend hat mich eine Redakteurin im Wagen Rich­tung Kreuz­berg mitge­nommen. Im Autoradio kam etwas mit Ber­lin, Grenze, Öffnung, Menschen­mas­sen ... Wir so: "Och, nicht schon wieder Hör­spiel, davon hatten wir den Tag über genug!" Radio aus.

September 1989, auch Kreuzberg
Als ich der WG ankam, die mich beherbergt hatte, fand ich einen Zet­tel auf dem Kü­chen­tisch vor: "Mauer offen, Tref­fen wir uns an der Hein­rich-Hei­ne-Straße". Damals gab es ja noch kei­ne Mobil­telefone. Im ein­ge­mau­erten Berlin war es möglich, wenn man immer an der Wand ent­lang­ging, ein­an­der ver­ab­re­de­ter­wei­se an einem öf­fent­li­chen Ort zu treffen.

Die halbe Nacht ver­brac­hten wir dort, später ging's ans Brandenburger Tor. Ich erlebte die Nacht zwischen hys­te­ri­schem Lachen und Weinen. Außerdem rat­ter­ten mir wie in einer münd­lichen Geschichts­prüfung sämtliche relevanten Ereig­nisse deutscher Geschichte an neun­ten No­vem­bern durch den Kopf. Dazu kamen drei Tril­lio­nen üble Vorahnungen und mit­ge­fühl­tes Leid über so viele angehaltene, zerstörte, erschwerte Lebens­we­ge. Bis ins späte Frühjahr 1990 hatte ich sogar noch Angst vor einem Putsch der DDR-Ge­heim­dienste.

Der blaue Man­tel hat mich schön gewärmt in dieser Nacht. Einen Tag später saß ein Freund aus dem Osten am Kreuz­berger WG-Tisch und ist mitten im Er­zäh­len ein­ge­schlafen. Aber das ist eine andere Ge­schich­te.

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Foto: C.E. (Archiv)

Freitag, 8. November 2019

Rauswerfer der Woche

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Nach einem grip­pa­len In­fekt hat mich ein ver­dor­be­ner Fisch nie­der­ge­bü­gelt. Jetzt bin ich wieder auf den Beinen und eile sofort an den Ar­beits­platz.

Das Mikro steckt am Kopfhörer, hier: weggedrehtes Pultmikro ...
Und dann sagt der Mo­de­ra­tor tat­säch­lich das sehn­lichst er­war­te­te En­de der Kon­fe­renz an: "Be­vor wir gleich aus­ein­an­der­gehen, legen Sie bit­te noch die Dol­metscher flach auf den Tisch. Neh­men Sie sie nicht mit nach­hause, da wohnt kein klei­ner Mann oder kei­ne klei­ne Frau drin, die sind bei Ih­nen zu­hau­se nicht weiter zu gebrauchen."

Dieser Raus­wer­fer der Woche ver­­schlägt dann erst­mal sogar der Per­son im Saal fast die Sprache, die aus ihrer größten Schwä­che, der großen Ge­sprächig­keit, ihren Beruf gemacht hat. (Also mir.)

Und ja, es soll Fäl­le gegeben haben, wo sich Men­schen die Kopf­hörer mit Em­pfangs­ge­räte ein­ge­steckt haben und an­schlie­ßend ganz ent­täuscht ge­we­sen sein sol­len.

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Foto: C.E. ... sowie Fotograf im Hintergrund

Donnerstag, 7. November 2019

Auf dem Schreibtisch (LIIX)

Mitten in ei­nen Blog aus der Ar­beits­welt sind Sie rein­ge­ra­ten: Bon­jour und herz­lich will­kom­men! Hier stehen kurze (anonymisierte) Episoden aus meinem mit­un­ter sehr vielseitigen Alltag, Gedanken zu Kultur und Sprache sowie Hinweise zu meinen Arbeitsfeldern. 

Hier der 58. Blick auf den Schreib­tisch. Dieser Tage geht es um ...

Sekretär, Bilder, Stuhl, Divan
Ein Arbeitszimmer vom Ende des 19. Jahrhunders
⊗ Mau­er­fall (im Ro­man)
⊗ Deutsche in der Résistance
⊗ Konfliktrohstoffe und Elek­tro­mo­bilität
⊗ Regenwasser­ma­na­gement in der Stadt
⊗ Großküchen­pla­nung (Kos­ten­vor­an­schläge)
⊗ Philosophische Grund­kon­flik­te
⊗ Kontrafaktische His­torio­gra­phie (Nach­be­rei­tung)
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Foto: Archiv

Montag, 4. November 2019

Oma Eierschecke

Willkommen beim Blog einer Spracharbeiterin. Ich verdiene meine |Brötchen| Croissants mit Übersetzen und Dolmetschen für Menschen aus der Politik-, Kultur- und Modewelt, Industrie und Handwerk. Hier schreibe ich über meinen Alltag und die Sprache(n).

Windrad, Froschperspektive
Irgendwo in Hessen
Wir sind mitten im Westen, irgendwo im Hessischen, am Fuße einer Wind­kraft­an­la­ge, erst draußen, dann drinnen. Wir, das sind zum einen unsere Gäste aus Tu­ne­sien, die im Bereich Er­neu­er­bare Ener­gien ar­bei­ten, zum anderen ein Be­gleit­team. Die Dele­gation sieht sich auf höchste Einla­dung in Deutschland um.

Wir bekommen erst die Windräder erklärt, dann geht es um Sicher­heits­belange. "Wie wird der Alarm losgelöst?", fragt einer der Gäste. Jetzt folgen Details, die hier nicht relevant sind. Der Gast­geber berichtet und schließt mit den Worten: „Ja, und dann geht bei Löschmeister Was­serhose der Alarm los!“

Das ist eine Anspielung an das Buch "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt" von Hannes Hüttner (1969). Die (West)-Dolmetscherin mit partieller Ostvergangenheit, also ich, darauf schlagfertig, bevor es kon­se­kutiv ins Franzö­sische geht: „Und bei Oma Eier­schecke wird schon wieder der Kaffee kalt!“ Augen­zwinkern. Stummes Ein­ver­ständnis.

Als Ost-West-Kinder, meine Geschwister und ich sind in den 60ern und 70ern ge­bo­ren, hatten wir fast nur Ost-Kinder­bücher zu Hause, denn der Mindest­um­tausch von den langen Fe­rien­wo­chen in Sachsen musste ja gut an­ge­legt werden. Darun­ter auch ein dickes Vor­lese­buch mit Geschich­ten für den Kinder­garten. Darin stand auch die Ge­sch­ichte von der Feuer­wehr­station. Unser Vater hat uns jeden Abend eine bis zwei Stunden lang vorgelesen, was übrigens DER Tipp für alle Eltern ist.

Dass ich eigentlich im Westen auf­ge­wachsen bin, also außerhalb der Ferien­zeiten, die ich in der DDR oder in Frank­reich war, dane­ben war ich nur ein einziges Mal in Österreich, mehr Ferien­des­ti­na­tionen gab es in unserer Kindheit nicht, habe ich unserem Gastgeber gegenüber beim Heimweg durch den Wald noch aufgelöst. Aber so viele Heimatgefühle in­mit­ten einer tu­nesisch-fran­zö­sisch­spra­chigen Gruppe war schon schräg!

Und heute lese ich diese Ge­schich­ten natürlich selbst vor, wenn sich die Ge­le­gen­heit dazu ergibt.

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Foto: C.E.

Sonntag, 3. November 2019

Allgemeinbildung

Im 13. Jahr beschreibe ich hier meinen sprachbetonten Alltag. Ich bin Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin und Übersetzerin, und sonntags werde ich privat.

Neuköllner Angebot
Mir wür­de es ge­fal­len, ei­ne "monstermäßige Allge­mein­bil­dung" zu haben, soll ich neu­lich in einem In­ter­view gesagt haben. (Ich durfte schon mal rein­schauen, es erscheint nach dem Mau­er­fall­ju­bi­läum, Hinweis folgt.)

Klingt für mein Gefühl nicht so ganz nach mir, viel­leicht hab ich ja "mords­mäßig" gesagt. OK, Hello­ween war ge­ra­de, lassen wir das Monster.

Denn was stimmt, ist die er­schrecken­de und mich selbst manchmal über­ra­schen­de Breite und Vielfalt dieser Allgemeinbildung. Wie ein Monster halt. ("Mordsmäßig" ist ei­gent­lich doof.)

Ich kränkle — wie so viele, seit die Heizperiode losging — und würde statt­des­sen lie­ber auf den Floh­markt gehen.

Dort fand ich neulich Politiker "im Dutzend billiger". "Käufliche Politiker" habe ich jetzt nicht gedacht, natürlich nicht. Und blödes Rumkalauern gehört zum Ge­schäft.

EDIT: Die Redakteurin verwies auf die ex­ak­te Mi­nu­te der Ton­auf­nah­me unseres Gesprächs. Ich habe tat­säch­lich "monstermäßig" gesagt.

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Foto: C.E. (Archiv)