Donnerstag, 22. August 2019

Vortrag vs. Vorlesung

Was Kon­fe­renz­dol­metscher und Übersetzer so umtreibt, davon können Sie hier ein wenig mitbekommen. Im 13. Jahr blogge ich über meinen sprachbetonten All­tag. Oft ha­de­re ich mit der Welt und ret­te mich dann mit lin­gu­is­ti­schen Be­trach­tun­gen vor ernsthaften Verstimmungen.

Bilder einer Vorlesung
Du oder Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, ahnen ja gar nicht, wie viele un­ver­öf­fent­lichte Blogein­träge hier im Archiv schlum­mern. Es ist immer das Gleiche. Geschrie­ben ist es schnell, dann geht's ans (immer schnel­lere) Über­ar­bei­ten. Steht der Text, folgt das Edi­ting, also die An­pas­sung an die Bilder, Trenn­zei­chen­setzung und derlei.

Manchmal stellt sich mir zwischendrin die Fra­ge, ob ich den Text veröffentlichen soll. Die freie Pub­lizistik hat ihre Fallen. Zumal ich ja hier überwiegend einen Blog aus dem Arbeits­leben verfasse. Mit der Um­­welt- und der Welt­po­litik bin ich schon lange nicht mehr ein­ver­stan­den. (War ich das jemals?)

Wie äußert eine Dolmetscherin, die per defini­tionem immer im Hinter­­grund blei­ben muss, ihre Meinung? Nicht einfach. Kurz: Das Schat­ten­ar­chiv umfasst genauso viele Blogeinträge wie der veröffent­lichte Teil, davon wäre mög­li­cher­wei­se ein Drittel eine gute Grundlage. Lieber schreibe ich über Sprache. Und auch heute rettet mich wieder eine Bitte wie diese hier aus Marokko: "Bedeuten Vor­le­sung und Vortrag die gleiche Sache?"

Der Begriff "Vor­le­sung" stammt aus dem universitären Bereich, auf Französisch wä­ren das die cours généraux. An der alten "Ordinarien­universität" stand tat­säch­lich jemand vorne am Pult, in eine Robe gekleidet, hat ein Papier vorgelesen. (Manche weniger guten Redner machen das heute noch, allerdings ohne Robe.) Eine Vor­le­sung hält die Profes­sorin oder der Professor oder die Assisten­tin/der Assistent oder auch Habili­tanden oder Promo­venden des Studiengangs, wenn die Letztgenannten auch Lehrbeauftragte sind. Der Inhalt einer Vor­le­sung ist an einen akademischen Kanon gebunden, den klar definierten Stoff, den es zu lernen gilt.

Also wird es zum Beispiel jeden Dienstag um 10.00 Uhr im Fach Wirt­schafts­geo­gra­fie um ein anderes Thema gehen, um am 8. Oktober ist das Thema "La­ger­stät­ten fossiler Rohstoffe" dran. (Das liest sich für mich wie das Wort "Or­di­na­rien­uni­ver­si­tät".)

An der Universität, Kurzform "Uni", gibt es aber auch Vorträge: Durchreisende Wis­sen­schaftler, Gastdozenten, Forscher berichten über ihre Fachthemen. Die Vor­trä­ge sind freier in Inhalt und Form. Spricht der Redner wirklich frei und blickt nur ab und zu auf sein Papier, ist es ein "freier Vortrag", was für uns Dol­met­­sche­rin­nen und Dol­met­scher immer die bessere Variante ist.

Auch außerhalb des akademischen Betriebs werden Vorträge ver­an­stal­tet. Alle, die etwas zu sa­gen haben, können einen Vortrag halten (auf Französisch übrigens la conférence). Vor Erfindung der Volks­­hoch­schu­len und der Massen­medien gab es oft "Vortrags­reisende", die aus fernen Ländern oder über wis­sen­­schaftliche Erkennt­nisse berichtet haben. Alte An­kün­di­gungs­zet­tel solcher Vor­trags­orte lesen sich wie das hal­be Pro­gramm von Phoe­nix und Arte.

Ironisch ausge­drückt kann ich jemandem, dem ich mal tüchtig "die Meinung gei­ge" oder eben etwas vor­sich­ti­ger einen Vor­trag halten; halte ich sie oder ihn für dumm, ihr oder sein Ver­halten für schwer fehler­haft, kann es sogar eine "Stand­pau­ke" sein.

Zusam­men­fassung: Eine Vor­le­sung wird an Bildungsstätten von Lehr­körpern im Rahmen eines festen Programms gehalten. Vorträge kann jede und jeder halten, der oder die etwas zu sagen hat, ganz gleich, ob Wissen­schaftler oder nicht. Auch der Ort des Vortrags ist frei.

Obdachlose gegenüber der Sorbonne
Merksatz: In der Regel kann eine obdachlose Person einen Vortrag über das Leben auf der Straße halten, aber keine Vor­le­sung. (Es sei denn, er oder sie ist Soziologe, die Woh­nungs­frage steht auf dem Lehr­plan und er oder sie lebt im Hotel oder bei Freunden. Dann ist er oder sie im ei­gent­li­chen Wortsinn aber nicht obdachlos. QED.)

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Foto: C.E.

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