Donnerstag, 29. August 2019

Träger

Wie leben, ar­bei­ten und den­ken Dolmetscher? Wie ver­än­dert der Be­ruf ihr bzw. un­ser Leben? Da­rü­ber und über di­ver­se ty­pi­sche Situatio­nen aus der Ar­beit denke ich hier im 13. Jahr nach. Ich zähle zu den Fran­zö­sisch-Dol­met­schern, arbeite aber auch mit Eng­lisch (als Ausgangs­sprache). Tätig werde ich in Paris, Berlin, Mün­chen, Cannes, Frankfurt, Lyon und dort, wo Sie mich brauchen. Dabei achte ich immer besoners auf die Wörter.

Pappaufsteller mit kleinem Mädchen mit roter Muetze, rotem Schal und roten Struempfen
Mützenträgerin
Spaghetti­trä­ger, Stahlträger, Müt­zen­trä­ger, Gepäck­trä­ger, Träger einer Sänfte oder insti­tu­tionelle Träger: DER TRÄGER ist ein Wort mit verschiedenen Be­deu­tun­gen. So oft wie in dieser Wo­che habe ich es lange nicht gehört.
Ein Kunde und ich sind unterwegs auf der Suche nach Kindergar­ten­plätzen für seine Töchter. Er ist mit seiner Familie gerade nach Berlin gezogen. Es handelt sich um gewünsch­te Migration, Stichwort Fach­kräf­te­man­gel, seine Speziali­sierung ist hier sehr gefragt. Die USA kennen die Green Card, Europa nennt das ent­spre­chende Dokument Blue Card. In Berlin zu arbeiten ist die eine Sache, hier zu leben die andere.

Auf Kinder­gar­tensuche also: Eine Behörde übergibt uns eine mehrseitige Liste von städti­schen Kinder­gärten und Ein­rich­tungen freier Träger. Eine Behörde hat alle bekannten Stellen erfasst, „aber es werden regelmäßig Kitas gegründet, die sich nicht gleich hier melden, Sie müssen die Augen selbst aufhalten“, rät die Amts­dame. Auch Tages­pfle­ge­stellen seien selten.

Überall dort, wo wir in Berlin anklop­fen oder anrufen, heißt es: ausgebucht! Ein­mal wird die Direktorin konkret, sie habe 150 Anmel­dungen für zwölf Plätze. Das 17 Monate alte Mäd­chen könne ja noch bei Mut­tern bleiben, die Vierjährige mit viel Glück möglicher­weise in einem Jahr irgendwo nach­rücken, im Grunde aber erst 2022. In diesem Jahr wird sie dann bereits in die zweite Klasse ein­ge­schult werden.

Die Kinder brauchen nicht nur Gleich­altrige, um Deutsch zu lernen, auch ihre Mut­ter braucht die Plätze. Sie ist ebenfalls Aka­de­mi­kerin in einem ge­such­ten Beruf und möchte bald ihre mageren Deutsch­kenntnisse erweitern, um dem Arbeits­markt zur Ver­fü­gung zu stehen (und um zur hor­ren­den Miete der Wohnung beitragen zu können).

Wir suchen weiter. Es gibt interne Warte­listen, Jugend­amts­listen, wir entdecken weitere Türen, an die zu klopfen eventuell etwas bringen könnte. Zu erwähnen, dass man um den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz weiß, solle helfen, vernehme ich irgendwo zwischen den Worten.

Nach einer Woche Suche kann ich sagen, dass dieses Berliner Kinder­gar­ten­drama für die total verfehlte Bevölkerungs- und Zuwan­derungs­politik Deutschlands steht und mich fatal an die Schulen erinnert, die wir auch besucht haben, denn die Familie hat auch ein größeres Kind: Überall wird repariert, gemalert, gepflastert, aber nur das Aller-aller-allernötigste. Die meisten Gebäude sind in einem be­kla­gens­wer­ten Zu­stand, irgendwas zwischen DDR-Provinz, wo nie für mal eilig den Besuch einer wichtigen Person aufgehübscht wurde, Nachkriegsbundesrepublik und Ent­wick­lungs­land.

Historisches Foto: Schulklasse
Volle Klassen, damals und heute
Parallel zu unserer Suche brin­gen die Zei­tungen un­fass­ba­re Zahlen, die den Reno­vierungs­rückstand der Ber­liner Schulen beziffern, sowie die Zahl der fehlenden Leh­rer. Nur 40 Prozent der dieses Schul­jahr neu ein­ge­stellt­en Grund­schul­lehrer hat diesen Beruf überhaupt stu­diert. Pä­da­go­gik ist ein ei­gen­stän­di­ges Fach, die Arbeit mit Kindern was für Profis.

Hat sich auch irgendwie nicht richtig bis in die Berliner Stadtverwaltung rum­ge­sprochen. Und auch die Berliner Bundespolitiker scheinen erst lan­­gsam zu ahnen, dass es mit der Schwarzen Null und der Schuldenbremse viele Verlierer gibt.

Wir werden weiter auf freie Träger und Neugrün­dungen achten. Und wenn auf ei­ner Kon­fe­renz zu einem Bil­dungsthe­ma demnächst wie­der theoretisch ge­spro­chen wird, werde ich aktu­el­le Bilder im Kopf haben, wie es draußen wirklich aus­sieht.

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Foto: C.E.

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