Sonntag, 11. August 2019

Kressezoo

Im 13. Jahr beschreibe ich hier meinen sprachbetonten Alltag. Ich bin Kon­fe­renz­dol­metscherin und Übersetzerin, arbeite mit der fran­zö­sischen Sprache (und aus dem Englischen). Sonntags werde ich privat.

Visuell dreht es sich hier derzeit oft um Pflanzen, vor allem um jene aus Balkon- und Hof­gar­ten. Das hat seinen Grund.

Als Sprach­ar­bei­te­rin könnte ich das so erklären: Bildung braucht Zeit für Wachs­tum, braucht regel­mä­ßige Pflege. Das gilt auch für Kennt­nis­se in den Be­rei­chen Spra­chen und Landes­kunde. Darin ähnelt die per­sön­liche und berufliche Bildung dem Gärt­nern. Außerdem ge­nie­ße ich mein Balkonien gerade sehr. Ich freue mich, dass ich schon im Früh­som­mer im Kurzurlaub war. Volle Autobahnen, Sehens­wür­dig­keiten und Restau­rants sind nämlich nicht so mein Ding.

Ich genieße also unsere Woh­nung in Berlin. Die deutsche Haupt­stadt ist im Sommer ein sehr angenehmer Ort, und Sommer ist eigentlich die beste Jahreszeit hier. Wa­rum also wegfahren? Ich fahre trotz­dem sehr oft weg, mittel­lange Kurztrips, und überlasse den anderen die Pflanzen­pflege. Nicht nur Kinder werden älter, auch Eltern, bis dann die großen Kinder wieder mehr Zeit mit ihnen verbringen dür­fen. Und wer öfter zwi­schen den Städten seiner Kindheit und Jugend und dem ei­genen Lebens­umfeld wech­selt, nimmt Orte plötz­lich bewusster war.

Kresseschwein mit Rucolasaat

Was auch für Gegenstände gilt. Das hier ist ein Kres­se­schwein. Es ist das Über­le­bende eines Kres­se­schwein­duos. Es zählt zu meinen frühen Kindheitserinnerungen. Ich verbinde es mit meiner Mutter, die sie einst auf einem Handwer­kermarkt er­wor­ben hat. Lei­der haben sie bei ihr nie funktioniert. Sie standen des­halb auf schön de­ko­rier­ten Fens­ter­bret­tern herum.

Kressezoo (Internetfund)
Irgendwann mussten wir als kin­der­rei­che Fa­mi­lie umziehen. Die Fen­ster­bän­ke im neu­en Haus wa­ren schmal, die „Schwein­derl“ lan­de­ten im Kel­ler. Im Öl­kel­ler, um ge­nau zu sein. Als ich sie dort vor zwei Jahren ent­deckt habe, stan­ken sie gräß­lich nach Heiz­öl, das heile und das ka­put­te. Das eine wan­derte in den Müll, das an­dere auf den Ber­li­ner Bal­kon — zu Deko­zwecken (und zum Lüf­ten).

Und nun, inzwischen riecht es wieder frisch, habe ich das Tontier sogar ausprobiert. Da ich mich des Kres­se­fias­kos mei­ner frühen Kindheit entsinne, ha­be ich das Schwein­chen vom ers­ten Tag an in ein Fußbad ge­stellt. Und siehe da: Es funktioniert doch!

Manche Dinge brau­chen Zeit, um uns ihre Ge­heim­nis­se zu ver­raten. Die Berliner Woh­nung ha­ben wir auch erst peu à peu ein­ge­rich­tet. Zu­nächst muss man sich ja erst mal ken­nen­ler­nen. Und seine Alltags­gesten am neuen Ort beob­achten, die auch die Zu­ord­nung von Stell­flä­chen und das Er­ken­nen von Bedarf erleichtern.

Bei diesem Kresseschwein werde ich mein Leben lang an meine Eltern denken, denn hier verbindet sich Vaters Erbe, der grüne Daumen, mit Mutters Erbe, dem Hang zum Schönen, Ausgefallenen.

Das Hirn sucht weiter nach einer französischen Entsprechung des Worts "Kres­se­schwein". Beim Suchen im Netz fin­de ich ei­nen Lie­fe­ran­ten ähn­li­cher Teile aus Me­xiko, der auch Kresse­la­mas und -pilze ver­treibt (siehe Fotostreifen). Dabei er­fahre ich, dass unser Kres­se­schwein eigentlich eine Kres­se­schild­kröte ist. Da­mit sind mei­­ne rein formalen Bedenken zu diesem Wesen endlich beseitigt. Und viel­leicht be­kommt das Über­le­ben­de bald wieder einen Partner. Die Viecher sind üb­ri­gens Fair Trade. Sehr char­mant das alles! Um die Fa­mi­lien­ge­schich­te voll­stän­dig zu ma­chen, wäre eine Kres­se­schnecke perfekt. Ob ich den Hersteller anschreibe? Hier der Link: Tumia/Tumi.co.uk (auch über Ebay erhältlich).

Vokabelnotiz
peu à peu (DE) — in Frankreich würde hier petit à petit vorgezogen
hérisson à cresson — Kresseigel (gefunden im Internet)

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Fotos: C.E. und Tumia (von mir bearbeitet)

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