Montag, 31. August 2020

COVIDiary (144)

Wie Dol­met­scher ar­bei­ten, können Sie hier mitlesen, denn hier bloggt eine Kon­fe­renz­dol­met­scherin. Mein Arbeits­platz ist zu 80 Prozent das eigene Büro oder die Bibliothek. Als Dienst­reisende entdecke ich außerhalb der Kon­fe­renz­kabine re­gel­mä­ßig andere Arbeitsorte. Bereits vor Jahren haben wir als Team zu Themen wie die Veränderung der Arbeitswelt gearbeitet. 

Schwarz-weiß-Büro mit Regalen, Tischen, Büromenschen
Büro à l'ancienne
Bei uns um die Ecke, im eins­ti­gen Umspannwerk Paul-Lin­cke-Ufer, wer­den Um­zugs­­kis­ten gepackt. Dort zieht das ur­sprüng­lich fran­zö­sische Un­ter­neh­men Payfit haus­in­tern um. Es setzt sich um et­was mehr als die Hälfte kleiner.

Die Firma ist nicht etwa ge­schrumpft, nein, ih­re Mitar­bei­te­rin­nen und -ar­bei­ter sind nur nicht stän­dig im Büro.

Der Dienst­leister im Bereich Lohn­buch­haltung ist Vorreiter in flexiblem Arbeiten und nennt das "Work from any­where". Die Berliner Zeitung (Link) zitiert die Per­so­nal­che­fin des Unternehmens: "Jeder und jede soll dort arbeiten können, wo er oder sie sich am produk­tivsten fühlt und wie es zum jeweiligen Lebensstil am besten passt". Der Artikel berichtet weiter, dass der Berliner Büro­mietmarkt zwischen April und Juni um knapp die Hälfte ein­ge­brochen sei.

Das hängt mit Corona zusammen, aber auch mit Verän­derungen in der Bü­ro­ar­beits­­welt, die wir schon lange beobachten. Die Zeitung gibt die Erwartung von Fach­leu­ten wieder, dass in Berlin bald sechs Millionen Quadratmeter Bürofläche unge­nutzt rumstehen würden, ein Drittel der bislang genutzten Räume.

Jahrzehntelang wurden Arbeitsplätze wie Fabrikhallen geplant, wenig ener­gie­ef­fi­zien­te Kuben mit viel Kunst­licht und schnurgeraden Wegen, in denen mitunter Pflanzen eine Ahnung vom wilden, ungezügelten, nicht rechtwinklig normierten Le­ben ver­mittelt haben, das damals draußen mut­maßlich stattfand.

"Damals", also bis zum Januar, sind auch viele noch für einen halbstün­digen Termin quer durch die Republik geflogen oder von Land zu Land, wir Dolmet­scherinnen kön­nen das bezeugen. Die Kurztermine fehlen heute manchmal, das Arbeitsleben im Groß­raumbüro nicht. Ich spreche aus Erfahrung, ein halbes Jahr habe ich vor langem in ei­nem solchen gesessen. Das war einerseits gut, denn ich war stets bestens informiert, was wichtig war für mich als künstlerische Leiterin eines Filmfestivals. Allerdings hat es mich bei Tätigkeiten wie Schreiben, Lektorieren und Lesen gestört und brachte viele Über­stunden mit sich.

Im Lockdown haben viele Menschen am Küchen- oder Wohnzimmertisch ge­ar­beitet. Sie sparten täglich viele Stunden Reisezeit in Bussen, Bahnen und im Auto. Es gab weniger Verkehrs­unfälle und bessere Luft (Link zum Deutschlandfunk). Un­ter­su­chun­gen ergaben, dass die Betreffenden in vielen Ländern im Schnitt eine gute Drei­vier­tel­stun­de länger gearbeitet haben als im Büro (Link zur Washington Post). Die Qualität der Arbeit und wie stark vielleicht der Nachwuchs den Störfaktor "Kollege" ersetzt hat, wurden nicht erhoben.

Eins ist klar: Viele Menschen wünschen sich fortan eine Hybridisierung der Ar­beits­welt. Sie möchten einige Tage die Woche zuhause arbeiten (Gottseidank, die Kids sind wieder in der Schule!), andere fürchten An­steckungen und einen erneuten Lock­down (Haben Lehrer und Bildungsplaner effizient an Entwicklung digitaler Lehr­for­mate gearbeitet und auch die Kinder aus bildungsfernen Schichten mit Technik ausgestattet?), nahezu alle finden Abwechs­lung gut, denn der informelle Austausch von Kol­legen ist auch wichtig (Wir Menschen sind soziale Wesen, zum Glück kann nicht alles optimiert werden).

Bei einem meiner Nachbarn wurde "mobiles Arbeiten" ausgerufen, damit der Ar­beit­ge­ber keinen zweiten Rechner und keinen rücken­freund­lichen Bürostuhl fürs Heimbüro zahlen muss, die andere Nach­barin ist nun komplett im eigenen Ar­beits­raum, nicht mehr im Büro, und stellt fest, dass sie ihre Arbeit in der halben Zeit schafft. Was ihr fehlt ist Platz, eine Tür, die sie zumachen kann, wenn sie die Arbeit hinter sich lassen will.

Auf den einschlägigen Kongressen und Dele­gations­reisen wurde schon vor Jah­ren damit gerechnet, dass sich diese Verän­derungen auch auf den Städtebau auswirken werden. Kurz: Wir brauchen wieder größere Woh­nungen, die zugleich bezahlbar sein müssen, und wir brauchen weniger Büroflächen. Außerdem werden künftig Büroim­mobilien nachhaltiger gebaut werden müssen, sie werden Wohnräumen ähneln, denn sie sind Lebens­orte mit flexiblen Arbeits­plätzen, Teams können sich in wechselnden Bereichen zusam­menfinden, daneben gibt es Stillar­beitsräume und mittendrin das eine oder andere alte Büro "wie früher".

Hermes und Schreibtisch (ca. 1900)
Auf den meisten Flächen wird die Nutzung wird alles andere als statisch sein; Co-Working-Spaces waren schon lang ein Hin­weis auf diesen Trend.
Was werden wir künftig mit den starren Bürobau­ten aus Glas, Beton und Stahl ma­chen? Vor allem in Zeiten, in denen Wohn­raum fehlt ... allerdings werden sie nur schwer in ech­te Le­bens­räume alias Wohn­­räume um­zu­bau­en sein.

Auch auf unser Dolmet­scherinnenleben wird sich das auswirken. Mehr als jedes zwei­te Unterneh­men plant Umfragen zufolge, stärker auf Online­konferenzen zu set­zen und Dienstreisen zu reduzieren. Die Sitzungen werden kürzer, auch die For­ma­te hybrider, seminarartiger. Die Dolmetschwelt richtet sich lang­sam darauf ein.

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Foto: C.E. (eigenes Fotoarchiv)

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