Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit
in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes
und dort, wo Sie mich brauchen. Gerne bin ich einen Tag die Woche auf Achse. Nicht immer bin ich dabei glücklich.
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Landschaft nach dem Regen |
Am Abend des 9. Oktober 2019: Die Sonne geht unter, ich sitze auf dem Beifahrersitz und könnte zufrieden sein. Gerade habe ich fast 50 Minuten einigermaßen unfallfrei simultan gedolmetscht. Nach 20 Minuten merkte ich erste Ermüdungserscheinungen, als dann ab der 30. Minute Zahlen, Daten, Fakten im Sekundentakt folgten, konnte ich nur noch zusammenfassen. Die Kollegin oder der Kollege, der/die hätte übernehmen können, hat gefehlt, und aufgeschrieben hat mir auch niemand etwas. Dolmetschen ist Teamarbeit, auch dann, wenn es nur eine Stunde dauert.
Zum Glück wurden beide Sprachströme aufgezeichnet, die Politikerrede und meine Verdolmetschung. Wir werden nacharbeiten.
Der Arbeitgeber des Kunden, eine französische politische Wochenzeitung, hatte nicht einmal Geld für eine professionelle Dolmetscherin, geschweige denn für zwei. Weil es mich interessiert hat, bin ich an diesem Mittwoch in der Früh nach Erfurt gefahren und in der Nacht zurück.
Honoriert wurde das Ganze mit einem "Solisatz". Ich muss vorausschicken, dass ich heute zwar als Konferenzdolmetscherin arbeite, aber früher einmal Journalistin war.
Wohin biegt mein Blogeintrag heute ab? Ich könnte schreiben über das Ausbluten der Medien, was dazu führt, dass unsereinem 100 Euro am Tag angeboten werden für die Arbeit eines "Fixers" oder "Stringers", des/der Vor-Ort-Kollegen oder -Kollegin, der/die Termine macht und
en passant auch Inhalte überträgt. Als Studentin wurden mir dafür zur Zeit des Mauerfalls 100 Dollar angeboten, das war um die 400 DM wert, wenn ich mich richtig erinnere.
Damit konnte ich damals die Monatsmiete einer kleinen Wohnung in Berlin
bezahlen. Heute reicht die Vergleichssumme für die Energiekosten meiner
Wohnung im gleichen Zeitraum. Kaufkraftverlust: ca. 75 Prozent. (Das muss ich nochmal genauer
nachrechnen.) Ich bekomme zum Glück mehr, weil klar ist, dass diesen
Job kein Korrespondent, Student oder Sprachlehrer machen kann (weibliche
Form stets mitgedacht). So werde ich am Ende eine Stunde Arbeit
berechnen und die Reise als Recherche verbuchen.
Wir stehen auf dem Untermarkt im
thüringischen Mühlhausen, vorne
spricht ein aalglatter Volkstribun, der sich
offensichtlich zu viele Videos mit Hitlers
Propagandaminister
angesehen hat. Dass dieser Zeitgenosse Gestik und Prosodie dort geklaut
hat, war mir spätestens nach seiner Dresdener Rede klar. Dieser Tage werde
ich die rhetorischen Muster dieses Herren,
dessen Namen ich hier nicht nennen will, untersuchen.
Ein deutscher Journalist, den wir zur
Vorbereitung des Termins zum
Mittagessen getroffen hatten, brachte das Bonmot: "Der
Vergleich zwischen diesen Herren ist leider unpassend, weil er nicht
hinkt." Nicht hinkender
Rattenfänger und hinkender Vergleich, die Sprache schillert.
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Wolkenlandschaften |
Die Höhe der Perfidie war der Moment, als der Redner auf Halle zu sprechen kam. Da hätte eben gerade ein Attentat stattgefundden, der Täter sei sicher wieder so ein verbrecherischer Scheinasylant, ein betrügerischer Pseudomigrant, ein tückischer Einwanderer ins Sozialsystem, dem die Gesellschaft zu Hilfe eilt, statt "unseren Menschen" zu helfen, den Rentnern und den deutschen Paaren, die aus Geldgründen auf Nachwuchs verzichten.
Um die Rede herum hatten wir Zuhörer befragt. Tenor: Die Politiker belügen uns. Die Armen verarmen weiter, niemand tut was, die Steuern und Verwaltungsauflagen sind zu hoch, die Mieten explodieren, wir fühlen uns unsicher, was die Zukunft angeht, es gibt zu wenig Kindergartenplätze und Lehrer, wir möchten nicht für Menschen Geld ausgeben, die dann unser System zerstören.
Genau dort setzen die Tribune von einst wie von heute an: An den Alltagsnöten und dem, was alle empfinden oder mindestens nachvollziehen können.
Dann wird ein großes "Wir" und "Ihr" gebildet, dann ein "Sie": die Politiker, "Systemmedien" oder "Kartellmedien" verschweigen die Wahrheit, man traut sich nicht mehr, offen zu sprechen, "es ist schlimmer, als es in der DDR war", sagt eine ältere Dame, es gebe nur einen politischen Ausweg.
Keiner der Befragten schien das Parteiprogramm dieser vom Verfassungsschutz beobachteten Truppe gelesen zu haben. Um arme Ruheständler geht es denen nicht.
Zurück ins Auto. Ich habe nasse Füße. Ich lese Nachrichten aus Halle. Eine Freundin ruft an. "Die Polizei sagt, es sei ein Amokläufer gewesen. Das ist aber eindeutig ein rechtsextremer Anschlag." Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es der Terrorist geschafft hätte, in die Synagoge zu gelangen.
Ein anderer Freund schreibt etwas zu Syrien. Erdoğan eröffnet den Krieg gegen die Kurden, die bislang in Nordsyrien tapfer gegen den IS gekämpft haben, der Rückzug der USA hat ihm den Weg frei gemacht. Ungarn hat sich im Konzert der EU-Nationen
gegen eine Rüge der Türkei ausgesprochen, das Land war das Zünglein an der Waage. Und der türkische Machthaber hat unsere Politiker ohnehin in der Hand. Er kassiert Unsummen, um die Geflüchteten im Land zurückzuhalten, Geld, von dem vermutlich sehr wenig bei den Betroffenen ankommt.
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Hinweise und Wegemarken |
Eine von mir seit 2015 betreute syrische Familie hat nur einige Jahre in der
Türkei überlebt, weil die minderjährigen Töchter in einer Schneiderei
zum Dumpinglohn gearbeitet haben. Eine andere Lebensgrundlage gab es und
gibt es für die dort zurückgebliebenen Nachbarn nicht.
So erfasst mich einmal mehr das Weltengrauen. Nein, mir graut nicht vor den
anderen Sonnensystemen, die die Forschung beschrieben hat, das finde ich hochspannend. Es ist auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben beim Dolmetschen im Regen gestanden habe. Mein Kunde, der Journalist, wollte zwar an einen anderen Stehtisch mit Schirm umziehen, an auch ich geschützt gewesen wäre, der Ort war aber akustisch nicht OK. Ich muss gut hören können, in was ich reinquatsche.
Weltengrauen. Mich wird die Fotografie retten, die Ersatzsocken, der Kaffee in der Sonne am nächsten Morgen und das Wissen darum, wie wichtig es ist, für seelischen Ausgleich zu sorgen.
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Foto: C.E.