Anti-Nazi-Witze (Buch von 1946) |
"Amoklauf" eines "Einzeltäters" sprechen, von etwas "Unvorstellbarem" und den Mordanschlag als "Alarmzeichen" einstufen, lassen mich ebenso irritiert zurück wie Politiker, die bekunden: "Das CO2-Thema haben wir jetzt bis zur Vergasung besprochen."
Es ist klar, dass der Mörder die Synagoge stürmen wollte. Er streamte seine Tat ins Netz, Christchurch ist nicht weit. [EDIT: Gestern Abend hat der mutmaßliche Täter gestanden.]
In solchen unbedarften Äußerungen offenbart sich, wer jahrzehntelang die Augen verschlossen hat. Das ist kein Alarmzeichen wie das Läuten eines Weckers, viele Politiker haben verschlafen.
Alarmzeichen gibt es seit Jahrzehnten, ebenso lange schreiten Rechtsextreme zur Tat. Das Attentat auf die Olympiade in München? Oktoberfestanschlag? Jüdische Gemeinden unter Polizeischutz, weil Drohungen vorlagen? NSU-Morde, alles vergessen? Und auch vergessen, dass diese Straftaten viele Jahre lang anderen sozialen Milieus zugeschrieben wurden?
Wer genau hinsieht, nimmt die "völkisch" Denkenden im Alltag wahr, die ganz bewusst anders auftreten und an öffentlichen Orten ihr perfides Gift mit scheinbar harmlosen Kommentare verspritzen, z.B. im Zugabteil. Medien berichten regelmäßig von "völkisch befreiten" Ortschaften auf dem Land, von ideologischen Kaderschmieden, Wehrsportgruppen und wachsenden Arsenalen. Der Bundesverfassungsschutz warnt seit Jahren. Im letzten Jahresbericht benennt er das "Erstarken der rechtsextremistischen Kampfsportszene" (Link zum Tagesspiegel-Artikel von Ende September).
Das alles kam also nicht über Nacht. Im Osten schien das allerdings undenkbar, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Rassismus, Antisemitismus und NS-Ideologie galten in der DDR offiziell als überwunden. Als Teenager war ich oft auf Besuch in Sachsen. Ich erinnere mich an mehrere Vorfälle, die in unserem Umfeld passiert sind, wo "Nazis" einen Jugendclub angegriffen haben, wo Menschen bedroht worden sind, einfach nur, weil sie Andersdenkende waren, friedensbewegte und musisch orientierte junge Leute. Kurzfristig wurden die Orte von Zusammenkünften geändert, war Eintritt nur konspirativ auf ein Zeichen hin möglich, wurden eigentlich öffentlich zugängliche Häuser verrammelt.
Von kritischen Geistern wurde damals Victor Klemperers "LTI" auch als Buch gelesen, um die Sprachhülsen der DDR-Regierung zu entlarven. Und natürlich auch, um argumentative Munition gegen die Neonazis zu haben.
Erschütternd, wie der Westen nach dem Mauerfall sämtliche Warnungen ignoriert hat. Dazu Dr. Bernd Wagner (Exit): "Das BKA hat in der Lageeinschätzung Ost die gesamte DDR-Propaganda eins zu eins übernommen, die haben den ganzen Antifaschismus eins zu eins geglaubt." Das Zitat stammt aus einer sehr empfehlenswerten Hörfunksendung von Sabine Adler, die der DLF gestern brachte: "Real existierender Rechtsextremismus". Dazu noch ein Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Autor ist auch Bernd Wagner: "Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis" (Januar 2018).
Was wir nicht ausdrücken können, können wir nicht denken. Das ist eine Beobachtung, die wir Dolmetscher sehr oft machen. Besser ausgedrückt hat dies Ludwig Wittgenstein: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Die Kurzversion stammt von Johann Gottfried Herder: "Sprache formt das Denken."
Sprache des "Dritten Reichs" (1947) |
Nochmal: Hier ist es weitaus dramatischer, denn die Missstände waren eindeutig. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, weiß, was vor sich geht. Wie verhält es sich mit der Weltsicht von Politikern, die angesichts des gerade in Deutschland durchaus vorstellbaren Grauens derart wort- und konzeptlos reagieren?
Immer wieder hören wir Dolmetscher sehr genau, welche Politiker die allgemeine Parteilinie relativ unverändert aufsagen, als würde in der Schule Lernstoff abgefragt.
Dazu nutzen sie auch noch eine höchst formelhafte Sprache, die bei vielen Wählerinnen und Wählern im wahrsten Wortsinn nicht mehr ankommt.
Eigentlich müssten Politiker vorurteilsfrei Situationen beobachten, aus einzelnen Situationen ergibt sich eine "Lage", die mit Fachleuten zu analysieren wäre, davon müsste etwas abgeleitet und in politische Programme, Ziele oder Gesetze übertragen werden und schließlich wären diese mit klaren Worten, die auf die Lebensumstände der Menschen eingehen, auch zu vermitteln.
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Illustrationen: Verlage/Wikipedia
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