Freitag, 11. Oktober 2019

Hinsehen! Weiterdenken!

Bon­jour, bon­soir, gu­ten Tag oder gu­ten Abend auf den Sei­ten mei­nes di­­gi­­ta­­len Log­buchs. Hier schrei­be ich, was Über­setzer und Dolmetscher (für Fran­zö­sisch und Englisch) so machen. Das Zeitgeschehen aus der Perspektive der Linguisten: Jedes Wort zählt.

Geflüstertes - Die Hitlerei im Volksmund
Anti-Nazi-Witze (Buch von 1946)
Po­li­ti­ker, die nach dem Hal­len­ser Atten­tat vom
"Amok­lauf" eines "Einzel­täters" sprechen, von et­was "Unvorstell­barem" und den Mord­anschlag als "Alarm­zeichen" einstufen, lassen mich ebenso irritiert zurück wie Politiker, die bekunden: "Das CO2-Thema haben wir jetzt bis zur Vergasung be­spro­chen."

Es ist klar, dass der Mörder die Syna­goge stürmen wollte. Er streamte seine Tat ins Netz, Christ­church ist nicht weit. [EDIT: Gestern Abend hat der mutmaßliche Täter gestanden.]

In solchen unbedarften Äußerungen of­­fen­­bart sich, wer jahrzehntelang die Augen ver­schlos­sen hat. Das ist kein Alarmzeichen wie das Läuten eines Weckers, viele Politiker haben verschlafen.

Alarm­zeichen gibt es seit Jahr­zehnten, ebenso lange schrei­ten Rechts­ex­tre­me zur Tat. Das Attentat auf die Olympiade in München? Ok­to­ber­fest­an­schlag? Jüdische Ge­mein­den unter Po­li­zei­schutz, weil Drohungen vorlagen? NSU-Morde, alles ver­ges­sen? Und auch ver­gessen, dass diese Straftaten viele Jahre lang anderen so­zia­len Milieus zu­ge­schrieben wurden?

Wer genau hin­sieht, nimmt die "völkisch" Denken­den im Alltag wahr, die ganz be­wusst anders auf­treten und an öffent­li­chen Orten ihr perfides Gift mit scheinbar harm­lo­sen Kom­men­tare verspritzen, z.B. im Zugabteil. Medien berichten re­gel­mäßig von "völkisch befreiten" Ort­schaften  auf dem Land, von ideolo­gischen Ka­der­schmieden, Wehrsportgruppen und wachsenden Arsenalen. Der Bundesver­fas­sungs­schutz warnt seit Jahren. Im letzten Jahresbericht benennt er das "Erstarken der rechts­ex­tre­mistischen Kampf­sport­szene" (Link zum Tagesspiegel-Artikel von Ende September).

Das alles kam also nicht über Nacht. Im Osten schien das allerdings un­denkbar, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Ras­sis­mus, Antise­mi­tismus und NS-Ideo­logie galten in der DDR offiziell als überwunden. Als Teen­ager war ich oft auf Be­such in Sachsen. Ich erinnere mich an mehrere Vorfälle, die in un­se­rem Umfeld pas­siert sind, wo "Nazis" einen Jugen­dclub ange­griffen haben, wo Menschen be­droht worden sind, einfach nur, weil sie Anders­den­kende waren, frie­dens­be­wegte und musisch orientierte junge Leute. Kurz­fristig wurden die Orte von Zusam­men­künften geändert, war Ein­tritt nur konspi­rativ auf ein Zeichen hin möglich, wurden eigent­lich öffentlich zugängliche Häuser ver­ram­melt.

Von kritischen Geistern wurde damals Victor Klem­pe­rers "LTI" auch als Buch ge­le­sen, um die Sprach­hülsen der DDR-Regie­rung zu entlarven. Und natürlich auch, um ar­gu­men­ta­ti­ve Munition gegen die Neo­na­zis zu haben.

Erschütternd, wie der Westen nach dem Mauerfall sämtliche Warnungen ig­no­riert hat. Dazu Dr. Bernd Wagner (Exit): "Das BKA hat in der Lage­ein­schätzung Ost die ge­sam­te DDR-Pro­pa­gan­da eins zu eins über­nom­men, die haben den ganzen Anti­fa­schismus eins zu eins geglaubt." Das Zitat stammt aus einer sehr empfeh­lens­wer­ten Hör­funk­sen­dung von Sabine Adler, die der DLF gestern brachte: "Real existierender Rechtsextremismus". Dazu noch ein Dossier der Bundes­zen­trale für politische Bil­dung (bpb), Autor ist auch Bernd Wagner: "Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neo­na­zis" (Januar 2018).

Was wir nicht ausdrücken können, können wir nicht denken. Das ist eine Be­ob­ach­tung, die wir Dolmetscher sehr oft machen. Besser ausgedrückt hat dies Ludwig Wittgen­stein: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Die Kurz­version stammt von Johann Gott­fried Her­der: "Sprache formt das Denken."

Victor Klemperer - LTI
Sprache des "Dritten Reichs" (1947)
Für uns Sprachar­beiterinnen ist es das täglich' Brot: In der einen oder anderen Spra­che fehlt ein griffiger Aus­druck für etwas. Und uns fällt auf, dass prompt im je­wei­li­gen Sprach­raum das The­ma nicht oder kaum diskutiert wird.

Nochmal: Hier ist es weitaus dra­ma­ti­scher, denn die Missstände waren ein­deu­tig. Wer mit of­fenen Au­gen durch die Welt geht, weiß, was vor sich geht. Wie ver­hält es sich mit der Welt­sicht von Po­li­ti­kern, die an­ge­sichts des gerade in Deutsch­land durchaus vor­stell­ba­ren Grauens der­art wort- und konzeptlos reagieren?
Immer wieder hören wir Dolmetscher sehr genau, welche Politiker die allgemeine Parteilinie relativ unverändert aufsagen, als würde in der Schule Lernstoff abgefragt.

Dazu nutzen sie auch noch eine höchst formelhafte Sprache, die bei vielen Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern im wahrsten Wortsinn nicht mehr ankommt.

Eigentlich müssten Politiker vorurteilsfrei Situationen beobachten, aus ein­zel­nen Situa­tionen ergibt sich eine "Lage", die mit Fachleuten zu analy­sieren wäre, davon müsste etwas abge­leitet und in poli­tische Programme, Ziele oder Gesetze über­tra­gen werden und schließlich wären diese mit klaren Worten, die auf die Le­bens­um­stän­de der Men­schen ein­ge­hen, auch zu vermitteln.

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Illustrationen: Verlage/Wikipedia

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