Donnerstag, 10. Oktober 2019

Weltengrauen

Hier schreibt und denkt eine Übersetzerin und Dolmetscherin, derzeit in Berlin. Ich arbeite aber auch in Paris, Brüssel, Erfurt, Cannes und dort, wo Sie mich brauchen. Gerne bin ich ei­nen Tag die Wo­che auf Ach­se. Nicht immer bin ich da­bei glücklich.

Landschaft aus dem Auto heraus gesehen
Landschaft nach dem Regen
Am Abend des 9. Oktober 2019: Die Sonne geht unter, ich sitze auf dem Beifahrersitz und könnte zufrieden sein. Gerade habe ich fast 50 Minuten einigermaßen unfallfrei si­mul­tan gedolmetscht. Nach 20 Minuten merk­te ich erste Ermüdungserscheinungen, als dann ab der 30. Minute Zahlen, Daten, Fakten im Sekundentakt folgten, konnte ich nur noch zusammenfassen. Die Kol­legin oder der Kollege, der/die hätte über­neh­men können, hat gefehlt, und auf­ge­schrie­ben hat mir auch niemand etwas. Dol­met­schen ist Team­arbeit, auch dann, wenn es nur eine Stunde dauert.

Zum Glück wurden beide Sprachströme auf­ge­zeich­net, die Politikerrede und meine Verdolmetschung. Wir werden nach­ar­bei­ten.

Der Arbeitgeber des Kunden, eine fran­zö­si­sche po­li­ti­sche Wo­chen­zei­tung, hatte nicht einmal Geld für eine professionelle Dol­met­sche­rin, geschweige denn für zwei. Weil es mich interessiert hat, bin ich an diesem Mitt­woch in der Früh nach Er­furt ge­fah­ren und in der Nacht zurück.

Honoriert wurde das Ganze mit einem "Solisatz". Ich muss vorausschicken, dass ich heute zwar als Konferenzdolmetscherin arbeite, aber früher einmal Journalistin war.

Wohin biegt mein Blogeintrag heute ab? Ich könnte schreiben über das Ausbluten der Medien, was dazu führt, dass unsereinem 100 Euro am Tag an­ge­boten werden für die Arbeit eines "Fixers" oder "Stringers", des/der Vor-Ort-Kollegen oder -Kol­le­gin, der/die Ter­mine macht und en passant auch In­hal­te überträgt. Als Stu­den­tin wurden mir dafür zur Zeit des Mau­er­falls 100 Dollar angeboten, das war um die 400 DM wert, wenn ich mich rich­tig erinnere.

Damit konnte ich damals die Monats­mie­te einer kleinen Wohnung in Berlin be­zah­len. Heute reicht die Vergleichssumme für die Ener­gie­kos­ten meiner Woh­nung im gleichen Zeitraum. Kaufkraftverlust: ca. 75 Prozent. (Das muss ich nochmal ge­nau­er nach­rech­nen.) Ich bekomme zum Glück mehr, weil klar ist, dass diesen Job kein Kor­res­pon­dent, Stu­dent oder Sprach­lehrer machen kann (weib­li­che Form stets mit­ge­dacht). So werde ich am Ende eine Stunde Arbeit be­rech­nen und die Reise als Re­cherche ver­bu­chen.

Wir stehen auf dem Unter­markt im thü­rin­gi­schen Mühl­hausen, vorne spricht ein aal­glat­ter Volks­­tribun, der sich offensichtlich zu viele Videos mit Hitlers Pro­pa­gan­da­­mi­nis­ter angesehen hat. Dass dieser Zeit­ge­nosse Gestik und Prosodie dort ge­klaut hat, war mir spätestens nach seiner Dresdener Rede klar. Dieser Tage werde ich die rhe­to­ri­schen Muster dieses Herren, dessen Namen ich hier nicht nennen will, untersuchen.

Ein deutscher Jour­na­list, den wir zur Vor­be­rei­tung des Ter­mins zum Mittag­es­sen getroffen hatten, brachte das Bonmot: "Der Vergleich zwischen diesen Herren ist leider unpassend, weil er nicht hinkt." Nicht hinkender Rat­ten­fän­ger und hinkender Vergleich, die Sprache schillert.

Wolken aus dem Auto heraus gesehen
Wolkenlandschaften
Die Höhe der Per­fi­die war der Mo­ment, als der Redner auf Halle zu spre­chen kam. Da hätte eben gerade ein Atten­tat statt­ge­fund­den, der Täter sei sicher wieder so ein ver­­bre­­che­­ri­­scher Schein­asy­lant, ein betrü­ge­ri­scher Pseu­do­mi­grant, ein tücki­scher Ein­wan­derer ins So­zial­­sys­tem, dem die Ge­sell­schaft zu Hilfe eilt, statt "unseren Men­schen" zu helfen, den Rent­nern und den deutschen Paaren, die aus Geldgrün­den auf Nach­wuchs ver­zich­ten.

Um die Rede herum hatten wir Zuhörer befragt. Tenor: Die Politiker belügen uns. Die Armen ver­ar­men weiter, niemand tut was, die Steuern und Ver­wal­tungs­auf­lagen sind zu hoch, die Mieten explodieren, wir fühlen uns unsicher, was die Zukunft an­geht, es gibt zu wenig Kin­der­gar­ten­plätze und Lehrer, wir möchten nicht für Men­schen Geld ausgeben, die dann unser Sys­tem zer­stören.

Genau dort setzen die Tri­bu­ne von einst wie von heute an: An den Alltags­nö­ten und dem, was alle empfinden oder min­des­tens nach­voll­zie­hen können.

Dann wird ein großes "Wir" und "Ihr" gebildet, dann ein "Sie": die Po­li­ti­ker, "System­me­dien" oder "Kartell­me­dien" verschweigen die Wahrheit, man traut sich nicht mehr, offen zu sprechen, "es ist schlim­mer, als es in der DDR war", sagt eine äl­tere Dame, es gebe nur einen po­li­ti­schen Aus­weg.

Keiner der Be­frag­ten schien das Parteiprogramm dieser vom Verfassungs­schutz be­ob­ach­te­ten Truppe gelesen zu haben. Um arme Ruhe­ständ­ler geht es denen nicht.

Zurück ins Auto. Ich habe nasse Füße. Ich lese Nachrichten aus Halle. Ei­ne Freun­din ruft an. "Die Polizei sagt, es sei ein Amokläufer gewesen. Das ist aber eindeutig ein rechtsextremer Anschlag." Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es der Ter­ror­ist geschafft hätte, in die Synagoge zu gelangen.

Ein anderer Freund schreibt etwas zu Syrien. Erdoğan eröffnet den Krieg gegen die Kurden, die bislang in Nordsyrien tapfer gegen den IS gekämpft haben, der Rück­zug der USA hat ihm den Weg frei gemacht. Ungarn hat sich im Konzert der EU-Na­­tio­nen gegen eine Rüge der Türkei ausgesprochen, das Land war das Züng­lein an der Waage. Und der türkische Machthaber hat unsere Politiker ohnehin in der Hand. Er kassiert Unsummen, um die Geflüchteten im Land zurückzuhalten, Geld, von dem vermutlich sehr wenig bei den Betroffenen ankommt.

Im Rückspiegel das Auto, Hinweisschilder am Wegesrand
Hinweise und Wegemarken
Eine von mir seit 2015 betreute syrische Fa­mi­lie hat nur einige Jahre in der Türkei über­lebt, weil die minderjährigen Töchter in einer Schneiderei zum Dumpinglohn ge­ar­bei­tet haben. Eine andere Le­bens­grund­la­ge gab es und gibt es für die dort zu­rück­­ge­­blie­­be­­nen Nachbarn nicht.

So erfasst mich einmal mehr das Wel­ten­grau­en. Nein, mir graut nicht vor den an­de­ren Son­nen­sys­te­men, die die For­schung beschrie­ben hat, das finde ich hoch­span­nend. Es ist auch der Tag, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben beim Dol­met­schen im Regen gestan­den habe. Mein Kun­de, der Jour­na­list, wollte zwar an einen anderen Stehtisch mit Schirm um­zie­hen, an auch ich geschützt gewesen wäre, der Ort war aber akustisch nicht OK. Ich muss gut hö­ren kön­nen, in was ich rein­quatsche.

Welten­grau­en. Mich wird die Fotografie retten, die Er­satz­socken, der Kaffee in der Sonne am nächs­ten Mor­gen und das Wissen darum, wie wichtig es ist, für see­li­schen Aus­gleich zu sorgen.

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Foto: C.E.

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