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| Uferbaum mit Wurzeln und Restaurantschiff |
Ein Sprichwort weiß: „Es gibt zwei optimale Momente für das Pflanzen eines Baumes: Vor 20 Jahren und heute.“
Derzeit Büroarbeit: Als Dolmetscherin, die einer Auslandskorrespondentin zuarbeitet, deren Deutsch noch nicht ganz auf der Höhe ist, manchmal gebe ich auch Unterricht, erkläre ich oft Dinge, die sich kaum erklären lassen. Deutschland ist das berühmte Land der Ingenieur:innen, der Ratio, der Effizienz. Dabei gibt es gerade ein so ganz anderes Bild ab. Das Bahndrama stellt die Journalistin vor ein nicht auflösbares Rätsel. Sie hatte damit gerechnet, dass Züge hier mit der Pünktlichkeit eines Schweizer Uhrwerks abfahren und ankommen.
Que nenni, aber nicht doch! Ich erkläre, was damals bei der geplanten Privatisierung passiert ist. Dass auf Unternehmensberater, die vom Bahngeschäft keine Ahnung hatten, mehr gehört wurde als auf Bahnmitarbeiter:innen. Dass der Börsengang wegen der Krise am Neuen Markt geplatzt ist und wie sich dann die Arbeitsabläufe auch für Laien erkennbar verschlechtert haben. Wir werfen einen kurzen Blick nach England, wo der Staat die Eisenbahnen zurückkauft. Wir sprechen auch über aktuelle Debatten und Stimmungen. Manchmal hilft mir meine Ost-West-Vergangenheit. Oft schüttele ich selbst nur mit dem Kopf.
Ökonomisch ist klar: Wer weiter auf umweltschädliche Stoffe setzt, zahlt am Ende drauf. Andere Länder zeigen, dass Wandel funktioniert — durch Forschung, CO₂-Speicherung, Anpassung, Investitionen. Das Gleiche gilt für andere schädliche Substanzen, ich sage nur Agrarindustrie. Deutschland leistet Strafzahlungen an die EU wegen der Wasserverschmutzung. Der Aufschlag der Transition ist gemacht. Bei Messen und Märkten draußen „im Feld“ sagen große Teile der Wirtschaft: It's unstoppable!
Wie traurig, dass die Politik derzeit nur den Stammtisch zu bedienen scheint, der Angst vor Veränderungen hat. So scheint auch das Wort Resilienz hierzulande ein Wort aus einer fremden Sprache zu sein. Haben wir alle aus den Coronaengpässen nichts gelernt, trotz der lauten Beteuerungen damals?
Nach der hitzigen Debatte um Zuwanderung wären ruhige, multilaterale Gespräche nötig. Mit Schlagworten und Klischees lässt sich keine Zukünft gestalten. Die Stadtkerne verfallen zusehends; die Gründe sind vielfältig: Onlineeinkäufe, überteuerte Mietvorstellungen, leerstehende Büros.
Als Dolmetscherin bin ich oft mit dieser Frage im Gepäck gereist. Die Maßnahmen zur Wiederbelebung sind gar vielseitig. Es gibt gute Erfahrungen: Viele der aufgegebenen Ladengeschäfte Neuköllns wurden in den Nullerjahren durch Quartiersmanagementbüros an interessierte Mieter:innen vermittelt, die sie dann z. B. für ein Jahrzehnt zu vergünstigten Konditionen nutzen konnten. Dadurch wurde das Viertel für neue Mieter:innenschichten interessant. (Die anschließende Preisexplosion geht auf die Kappe der Börsenkrise 2008 und die Flucht ins „Betongold“.)
Wir bräuchten in der Gesellschaft einen Wettbewerb der Ideen und Projekte für maximalen Zusammenhalt, stattdessen erleben wir Blockaden. Überall fehlt es an Wohnungen, Strukturen, Sozialarbeit, aber auch an Diskussionsräumen. Frankreich hat Erfahrung mit tiers-lieux, Drittorten, die Gemeinschaft, Kultur und Wirtschaft verbinden. Sie beleben Innenstädte, fördern Dialog und schaffen Begegnung. Dabei gilt: kleine Mittel, große Wirkung.
Baugesetze lassen sich nachschärfen. Vorschlag: keine Baurechtsvergabe ohne das, was die „Berliner Mischung“ heißen könnte, maximal ein Drittel Eigentum, ein Drittel frei vermietbar, ein Drittel auf ewig preisgebunden im einfacheren Segment bei auch schlichterer Ausstattung UND DAZU kleinere Wohnungen im Erdgeschoss, die auch mit Mobilitätseinschränkungen allein bewohnbar sind, ebenfalls für immer 'bezahlbar'.
Existierende Baugesetze lassen sich nutzen, z.B. bei verwahrlosten Gebäuden. Das is im Straßenbau gang und gäbe: Enteignung zugunsten der Allgemeinheit. Dann wären Stiftungen und gemeinnützige Gesellschaften, Berufsfachschulen und örtliche Handwerker für die Rekonstruktion einzubeziehen. Indem sich die Zivilgesellschaft engagiert, betrachtet sie am Ende den gerettenen Bau als Ort der Gesellschaft und bildet neue Bildungs- und Diskussionsräume, aus denen Neues erwächst. Das sind „Dritte Orte“.
Die Fokussierung des Blicks auf einzelne Personengruppen und Probleme macht andere unsichtbar. Dabei braucht das Land Zuwanderung, und Effizienz im Umgang mit Menschen, denen Deutschland lange Asyl geboten hat, anstelle von Symbolpolitik.
Nach 2015 habe ich im Rahmen von psychologischer Krisenintervention gedolmetscht. Wir sind an unsere Grenzen gestoßen, denn es war rasch klar: Die Probleme sind größer als das, was sich im Ehrenamt lösen lässt. „Wer A sagt, muss auch B sagen!“, lautet das Sprichwort. B kam nie, schwer verzeihliche Unterlassungen, ein wenig wie bei der schleppenden Integration der Geflüchteten aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen, die einst auch von der ansässigen Bevölkerung schlechtgemacht wurden. Das war schon damals offensichtlich.
Will Deutschland seine Position halten, müssen wir das gründlich ändern. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung braucht Deutschland hohe Einwanderungszahlungen, die jährliche Nettozuwanderung von 346.000 bis 533.000 Menschen wird genannt, um den Arbeitskräftebestand konstant zu halten. Auch wenn die digitale Revolution zu weniger Arbeitskräftebedarf in der Fertigung führen wird, geht keine andere der Schätzungen von Zahlen unter 200.000 Menschen aus.
Ein riesiges, kaum beachtetes Potenzial sind zudem die jungen Leute am Rande der Gesellschaft, egal, ob alteingesessen oder neu hier. Sie wachsen meist beengt auf, ohne Rückzugsraum zum Lernen. Wir brauchen große Programme, die Bildungsaufstieg wieder möglich machen. In Deutschland werden Reichtum und Armut vererbt. Das gilt auch für Bildungsreichtum und -armut.
„Augen auf beim Elternkauf“, reicht nicht aus.
Große, also richtig große Sorgen macht mir der Imageschaden, den Deutschland derzeit nimmt. Die Korrespondentin kam mit dem Bild eines klugen, besonnenen, erfindungsreichen Landes nach Berlin. Jetzt sieht sie Scheindebatten, symbolische Handlungen, nicht verfolgte Steuertricks, Maskenaffären und Sozialbetrug. Wir sehen Clans und Luxusautos, Bettelei neben unfassabarem Reichtum ... und zu wenig Konsequenz.
Wir brauchen Austausch über heutige Probleme, die Folgen gestriger Versäumnisse sind, damit wir uns vielleicht morgen an das alte Image anknüpfen können. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Es gibt zwei optimale Momente für eine Bildungsrevolution: Vor 20 Jahren und heute.
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Foto: C.E. auf alt gemacht; in ein anderes
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