Dienstag, 28. Oktober 2025

Wandel

Bonj­our & hel­lo! Ich bin Dol­met­sche­rin Deutsch–Fran­zö­sisch mit Eng­lisch als Aus­gangs­spra­che. Mei­ne Ar­beit führt mich zu Kon­fe­ren­zen, über Kul­tur­events und mit De­le­ga­tio­nen quer durch Deutsch­land und fran­zö­sisch­spra­chi­ge Län­der und die wich­tigs­ten The­men un­se­rer Zeit. In mei­nem Blog le­sen Sie von den Mo­men­ten, die Sprach­ar­beit so span­nend ma­chen. Ein Sprich­wort weiß: „Es gibt zwei op­ti­ma­le Mo­men­te für das Pflan­zen ei­nes Bau­mes: Vor 20 Jah­ren und heu­te.“
Knorrige Wurzeln, Baumstamm, Blätter, Ufer, Schiff, Wasser
Ufer­baum mit Wur­zeln und Res­tau­rant­schiff

Ein Sprich­wort weiß: „Es gibt zwei op­ti­ma­le Mo­men­te für das Pflan­zen ei­nes Bau­mes: Vor 20 Jah­ren und heu­te.“

Der­zeit Bü­ro­ar­beit: Als Dol­met­sche­rin, die ei­ner Aus­lands­kor­res­pon­den­tin zu­ar­bei­tet, de­ren Deutsch noch nicht ganz auf der Höhe ist, manch­mal ge­be ich auch Un­ter­richt, er­klä­re ich oft Din­ge, die sich kaum er­klä­ren las­sen. Deutsch­land ist das be­rühm­te Land der In­ge­nieur:in­nen, der Ra­tio, der Ef­fi­zi­enz. Da­bei gibt es ge­ra­de ein so ganz an­de­res Bild ab. Das Bahn­dra­ma stellt die Jour­na­lis­tin vor ein nicht auf­lös­ba­res Rät­sel. Sie hat­te da­mit ge­rech­net, dass Zü­ge hier mit der Pünkt­lich­keit ei­nes Schwei­zer Uhr­werks ab­fah­ren und an­kom­men. 

Que nen­ni, aber nicht doch! Ich er­klä­re, was da­mals bei der ge­plan­ten Pri­va­ti­sie­rung pas­siert ist. Dass auf Un­ter­neh­mens­be­ra­ter, die vom Bahn­ge­schäft kei­ne Ah­nung hat­ten, mehr ge­hört wur­de als auf Bahn­mit­ar­bei­te­r:in­nen. Dass der Bör­sen­gang we­gen der Kri­se am Neu­en Markt ge­platzt ist und wie sich dann die Ar­beits­ab­läu­fe auch für Lai­en er­kenn­bar ver­schlech­tert ha­ben. Wir wer­fen ei­nen kur­zen Blick nach Eng­land, wo der Staat die Ei­sen­bah­nen zu­rück­kauft. Wir spre­chen auch über ak­tu­el­le De­bat­ten und Stim­mun­gen. Manch­mal hilft mir mei­ne Ost-West-Ver­gan­gen­heit. Oft schüt­te­le ich selbst nur mit dem Kopf.

Öko­no­misch ist klar: Wer wei­ter auf um­welt­schäd­li­che Stoffe setzt, zahlt am En­de drauf. An­de­re Län­der zei­gen, dass Wan­del funk­tio­niert — durch For­schung, CO₂-Spei­che­rung, An­pas­sung, In­ves­ti­tio­nen. Das Glei­che gilt für an­de­re schäd­li­che Sub­stan­zen, ich sa­ge nur Ag­rar­in­dus­trie. Deutsch­land leis­tet Straf­zah­lun­gen an die EU we­gen der Was­ser­ver­schmut­zung. Der Auf­schlag der Tran­si­tion ist ge­macht. Bei Mes­sen und Märk­ten drau­ßen „im Feld“ sa­gen gro­ße Tei­le der Wirt­schaft: It's uns­top­pa­ble!

Wie trau­rig, dass die Po­li­tik der­zeit nur den Stamm­tisch zu be­die­nen scheint, der Angst vor Ver­än­de­run­gen hat. So scheint auch das Wort Re­si­lienz hier­zu­lan­de ein Wort aus ei­ner frem­den Spra­che zu sein. Ha­ben wir al­le aus den Co­ro­na­eng­päs­sen nichts ge­lernt, trotz der lau­ten Be­teue­run­gen da­mals?

Nach der hit­zi­gen De­bat­te um Zu­wan­de­rung wä­ren ru­hi­ge, mul­ti­la­te­ra­le Ge­sprä­che nö­tig. Mit Schlag­wor­ten und Kli­schees lässt sich kei­ne Zu­künf­t ge­stal­ten. Die Stadt­ker­ne ver­fal­len zu­seh­ends; die Grün­de sind viel­fäl­tig: On­line­ein­käufe, über­teu­er­te Miet­vor­stel­lun­gen, leer­ste­hen­de Bü­ros.

Als Dol­met­sche­rin bin ich oft mit die­ser Fra­ge im Ge­päck ge­reist. Die Maß­nah­men zur Wie­der­be­le­bung sind gar viel­sei­tig. Es gibt gu­te Er­fah­rung­en: Vie­le der auf­ge­ge­be­nen La­den­ge­schäf­te Neu­köllns wur­den in den Nuller­jah­ren durch Quar­tiers­ma­na­ge­ment­bü­ros an in­te­res­sier­te Mie­ter:in­nen ver­mit­telt, die sie dann z. B. für ein Jahr­zehnt zu ver­güns­tig­ten Kon­di­tio­nen nut­zen kon­n­ten. Da­durch wurd­e das Vier­tel für neu­e Mie­ter:in­nen­schich­ten in­te­res­sant. (Die an­schlie­ßen­de Preis­ex­plo­sion geht auf die Kap­pe der Bör­sen­kri­se 2008 und die Flucht ins „Be­ton­gold“.)

Wir bräuch­ten in der Ge­sell­schaft ei­nen Wett­be­werb der Ideen und Pro­jekte für ma­xi­malen Zu­sam­men­halt, statt­des­sen er­leben wir Blo­cka­den. Überall fehlt es an Woh­nun­gen, Struk­tu­ren, So­zial­ar­beit, aber auch an Diskussionsräumen. Frank­reich hat Er­fah­rung mit tiers-lieux, Dritt­or­ten, die Ge­mein­schaft, Kul­tur und Wirt­schaft ver­bin­den. Sie be­le­ben In­nen­städ­te, för­dern Dia­log und schaf­fen Be­geg­nung. Da­bei gilt: klei­ne Mit­tel, gro­ße Wir­kung.

Bau­ge­setze las­sen sich nach­schär­fen. Vor­schlag: keine Bau­rechts­ver­ga­be ohne das, was die „Ber­li­ner Mi­schung“ hei­ßen könn­te, ma­xi­mal ein Drit­tel Ei­gentum, ein Drit­tel frei ver­miet­bar, ein Drit­tel auf ewig preis­ge­bun­den im ein­fa­che­ren Seg­ment bei auch schlich­te­rer Aus­stat­tung UND DA­ZU klei­nere Woh­nun­gen im Erd­ge­schoss, die auch mit Mo­bi­li­täts­ein­schrän­kun­gen al­lein be­wohn­bar sind, eben­falls für im­mer 'be­zahl­bar'.

Exis­tie­ren­de Bau­ge­setze las­sen sich nut­zen, z.B. bei ver­wahr­lo­sten Ge­bäu­den. Das is im Stra­ßen­bau gang und gäbe: En­tei­gnung zu­guns­ten der All­ge­mein­heit. Dann wä­ren Stif­tun­gen und ge­mein­nütz­ige Ge­sell­schaften, Be­rufs­fach­schu­len und ört­liche Hand­wer­ker für die Re­kons­truk­tion ein­zu­bezie­hen. In­dem sich die Zi­vil­ge­sell­schaft en­ga­giert, be­trach­tet sie am Ende den ge­ret­te­nen Bau als Ort der Ge­sell­schaft und bil­det neue Bil­dungs- und Dis­kussi­ons­räume, aus de­nen Neu­es er­wächst. Das sind „Drit­te Or­te“.

Die Fo­kussi­erung des Blicks auf ein­zelne Per­so­nengr­up­pen und Probleme macht an­dere un­sicht­bar. Da­bei braucht das Land Zu­wan­de­rung, und Ef­fi­zienz im Um­gang mit Men­schen, de­nen Deutsch­land lange Asyl ge­bo­ten hat, an­stelle von Sym­bol­po­li­tik.

Nach 2015 ha­be ich im Rah­men von psy­cho­lo­gi­scher Kri­sen­inter­ven­tion ge­dol­met­scht. Wir sind an un­sere Gren­zen ge­sto­ßen, denn es war rasch klar: Die Pro­ble­me sind grö­ßer als das, was sich im Eh­ren­amt lö­sen lässt. „Wer A sagt, muss auch B sa­gen!“, lau­tet das Sprich­wort. B kam nie, schwer ver­zei­hliche Un­ter­las­sungen, ein we­nig wie bei der schlepp­en­den In­te­gra­tion der Ge­flücht­eten aus Schlesien, Pom­mern und Ost­preu­ßen, die einst auch von der an­säs­sigen Be­völ­ke­rung schlecht­ge­macht wur­den. Das war schon da­mals of­fen­sicht­lich.

Will Deutsch­land sei­ne Po­si­tion hal­ten, müs­sen wir das gründ­lich än­dern. Laut ei­ner Stu­die der Ber­tels­mann-Stif­tung braucht Deutsch­land ho­he Ein­wan­de­rungs­zah­lun­gen, die jähr­li­che Net­to­zu­wan­de­rung von 346.000 bis 533.000 Men­schen wird ge­nann­t, um den Ar­beits­kräf­te­be­stand kon­stant zu hal­ten. Auch wenn die di­gi­tale Re­vo­lu­tion zu we­niger Ar­beits­kräf­te­be­darf in der Fer­tigung füh­ren wird, geht kei­ne an­dere der Schätz­un­gen von Zah­len un­ter 200.000 Men­schen aus.

Ein rie­si­ges, kaum be­acht­etes Po­ten­zial sind zu­dem die jun­gen Leu­te am Ran­de der Ge­sell­schaft, egal, ob al­tein­geses­sen oder neu hier. Sie wach­sen meist beengt auf, oh­ne Rück­zugs­raum zum Ler­nen. Wir brau­chen gro­ße Pro­gramme, die Bil­dungs­auf­stieg wie­der mög­lich ma­chen. In Deutsch­land wer­den Reich­tum und Ar­mut ve­rerbt. Das gilt auch für Bil­dungs­reich­tum und -ar­mut.

„Au­gen auf beim El­tern­kauf“, reicht nicht aus.

Gro­ße, also rich­tig gro­ße Sor­gen macht mir der Ima­ge­scha­den, den Deutsch­land der­zeit nimmt. Die Kor­re­spon­den­tin kam mit dem Bild ei­nes klu­gen, be­son­ne­nen, er­fin­dungs­rei­chen Lan­des nach Ber­lin. Jetzt sieht sie Schein­de­bat­ten, sym­bo­li­sche Hand­lun­gen, nicht ver­folg­te Steu­er­tricks, Mas­ken­af­fä­ren und So­zial­be­trug. Wir se­hen Clans und Lu­xus­au­tos, Bett­elei ne­ben un­fas­sa­ba­rem Reich­tum ... und zu we­nig Kon­se­quenz.

Wir brau­chen Aus­tausch über heu­tige Pro­ble­me, die Fol­gen ge­striger Ver­säum­nisse sind, da­mit wir uns viel­leicht mor­gen an das al­te Ima­ge an­knüp­fen kön­nen. Nur wer sich än­dert, bleibt sich treu. Es gibt zwei op­ti­male Mo­men­te für ei­ne Bil­dungs­re­vo­lu­tion: Vor 20 Jah­ren und heu­te.

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Fo­to: C.E. auf alt ge­macht; in ein an­de­res
Fens­ter ge­la­den, lässt es sich ver­größ­ern

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