Montag, 6. Oktober 2025

Montagsschreibtisch (110)

Herz­lich will­kom­men, lie­be Le­se­rin, lie­ber Le­ser! Hier bloggt ei­ne Sprach­ar­bei­te­rin mit Mut­ter­spra­che Deutsch und Haupt­ar­beits­spra­che Fran­zö­sisch, die Bü­ro­kol­le­gin über­setzt in die eng­li­sche Spra­che. Wie le­ben und ar­bei­ten wir Dol­met­scher und Dol­met­sche­rin­nen, Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer? Auf die­se Fra­ge ant­wor­te ich seit 2007 mit kur­zen Epi­so­den und Ein­bli­cken.

Fräu­lein Mül­ler in der Buch­hal­tung (1910)
Auf dem Schreib­tisch die­se Wo­che:
⊗ Gut­ach­ten Dreh­buch­über­set­zung
⊗ Post­ko­lo­nia­lis­mus
⊗ Er­näh­rungs­so­u­ve­rä­ni­tät
⊗ Saat­gut als um­kämpf­tes Wirt­schafts­gut ... und:
⊗ Ak­tu­el­le po­li­ti­sche La­ge

Nur knapp ei­nen Mo­nat nach sei­ner Er­nen­nung ist der fran­zö­si­sche Pre­mier­mi­nis­ter Sé­bas­tien Le­cor­nu zu­rückgetreten. Erst ges­tern Abend hatte er sein Ka­bi­nett vor­ge­stellt.

Ich sprin­ge in den Tee- und Ar­beits­pau­sen zwi­schen den Sen­dern hin und her: In Frank­reich ist der Rück­tritt zu ei­ner Stun­de be­kannt, als die Ta­ges­schau ge­ra­de erst die neue fran­zö­si­sche Re­gie­rung an­ge­kün­digt hat.

In Frank­reich hat Prä­si­dent Ma­cron, der sich 2017 als „nicht rechts, nicht links“ wäh­len ließ, kei­ne neu­en Ant­wor­ten auf die al­ten Kri­sen. Wir se­hen das auch in an­de­ren Län­dern: Die in Jahr­zehn­ten des so­zia­len Dia­logs ge­mein­schaft­lich be­schlos­se­nen Rah­men­be­din­gun­gen des Ar­beits­le­bens und des so­zia­len Zu­sam­men­halts sol­len vie­ler­orts auf Druck der In­dus­trie und an­de­rer Un­ter­neh­men ein­ge­schränkt wer­den, ich nen­ne hier nur The­men wie Le­bens-, Wo­chen- und Ta­ges­ar­beits­zeit. Wir er­in­nern uns an die mit ei­ner prä­si­dia­len Ver­ord­nung in Kraft ge­setz­te Ren­ten­re­form, die schon im Vor­feld zu vie­len De­mons­tra­tio­nen ge­führt hat­te.

Seit En­de 2023 steckt Frank­reich in ei­ner po­li­ti­schen und haus­halts­po­li­ti­schen Kri­se. Im Früh­jahr 2024 hat­te Ma­cron dann die Na­tio­nal­ver­samm­lung auf­ge­löst und in den dar­auf­fol­gen­den Par­la­ments­wah­len Stim­men­an­tei­le ver­lo­ren (mi­nus 93 Sit­ze). Keine Partei hat dort eine Mehrheit. Frank­reich kennt tra­di­tio­nell noch kei­ne gro­ßen Ko­a­li­tio­nen, die Re­gie­ren­den tun sich schwer mit der nö­ti­gen Kon­sens­fin­dung. Wer das Land kennt, denkt seit Jah­r­en: Zeit für ei­ne Ver­fas­sungs­re­form.

Die La­ge ist nicht gut. Das öf­fent­li­che De­fi­zit steigt seit Jah­ren an, die Re­gie­rung streicht re­gel­mä­ßig Mit­tel für Öko­lo­gie, Be­schäf­ti­gung und For­schung, wäh­rend der ei­ge­ne Rech­nungs­hof die Un­ge­nau­ig­keit die­ser Kür­zun­gen kri­ti­siert. Auch Mit­tel zur An­kur­be­lung von Kon­junk­tur und En­er­gie­wen­de wur­den ge­kürzt. Der jüng­ste neue Sa­nie­rungs­plan sieht zwei Drit­tel we­ni­ger Aus­ga­ben und ein Drit­tel neue Ein­nah­men vor.

Und wäh­rend die EU das stei­gen­de Haus­halts­de­fi­zit kri­ti­siert, stuf­en letz­tes Jahr die Ra­ting­agen­tu­ren Frank­reichs Bo­ni­tät her­ab.

Das hat auch Aus­wir­kun­gen auf mei­ne Bran­che. Et­li­che bi­na­tio­na­le oder eu­ro­pä­i­sche Pro­jek­te wer­den nun schon seit Jahren ver­schoben, Bud­gets ge­kürzt, Aus­schrei­bun­gen ver­zö­gern sich. Für uns hat das z. B. zur Fol­ge, dass ich neu­lich die Sprach­ar­beit bei ei­nem Pro­jekt zum drit­ten Mal bin­nen 18 Mo­na­ten neu kal­ku­lie­ren durf­te. In­zwi­schen ist es auf die Hälf­te zu­sam­men­ge­schrumpft (und noch im­mer oh­ne grü­nes Licht). An­de­re Be­hör­den und öf­fent­li­che Ein­rich­tun­gen war­ten ab.

Es wä­re an­ge­sichts die­ser oft vo­la­ti­len La­gen höchst sinn­voll, dass die Plä­ne zur grenz­über­schrei­ten­den Zu­sam­men­ar­beit grund­sätz­lich re­gel­mä­ßig bud­ge­tiert und ih­re Ar­beits­er­geb­nis­se dort, wo es nicht si­cher­heits­re­le­vant ist, bes­ser kom­mu­ni­ziert wer­den wür­den, da­mit die­se Grund­la­gen­ar­beit nicht mehr als die be­rühm­te „Kir­sche auf der Tor­te“ wahr­ge­nom­men wird. So­lan­ge un­klar ist, wer in Frank­reich re­giert, stag­nie­ren neue Plä­ne der zwi­schen­staat­li­chen Ko­or­di­na­ti­on wei­ter. 

In Deutsch­land hat­ten wir ei­ne ähn­li­che La­ge über sechs Mo­na­te lang, nach­dem im No­vem­ber 2024 der da­ma­li­ge Fi­nanz­mi­nis­ter so­wie Klä­ger ge­gen die Um­wid­mung von Co­ro­na-Hilfs­gel­dern zu­guns­ten des Trans­for­ma­tions­fonds die Am­pel zur Im­plo­si­on ge­bracht hat­ten. An­ders als Dach­de­cker, die Schlecht­wet­ter­geld be­kom­men, sind für die Sprach­bran­che kei­ne Kom­pen­sa­tio­nen vor­ge­se­hen.

Auch das ist ei­ner der Grün­de da­für, dass un­se­re Bran­che noch nicht wie­der auf dem Vor-Co­ro­na-Stand ist.

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Fo­to: Ar­chiv E­li­as Los­sow

2 Kommentare:

Vega hat gesagt…

Tja, so kann's kommen. Du hattest in die Richtung ja erst neulich rumgeunkt! Die Zeitung Le Monde soll etwas von einer Regierungszeit von 836 Minuten geschrieben haben. Frage einer Steuerzahlerin: Bekommen die Minister für diese Zeit Gehalt und Rentenpunkte? Grüßle!
Bine

caro_berlin hat gesagt…

Auf Deine Frage hab ich leider keine Antwort. Mir macht die Lage wirklich Angst. Zu oft weltweit das gleiche Drama, dysfunktionale Volksvertretungen, wenn die sich hier nicht bald ernsthafter den tatsächlichen Nöten der Leute zuwenden, drohen trumpische Verhältnisse. Ich grüße zurück! c.