Dienstag, 21. Oktober 2025

M wie Menschlichkeit

Wie Sprach­pro­fis ar­bei­ten, ist seit 2007 Ge­gen­stand die­ses Web­logs. Mei­ne Mut­ter­sprache ist Deutsch, ich ar­bei­te meis­tens als Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin mit Fran­zö­sisch und Eng­lisch, die Bü­ro­kol­le­gin über­setzt in die eng­li­sche Spra­che. Als Sprach­ar­bei­te­rin­nen ha­ben wir un­ser Ar­beits­ma­te­ri­al im­mer be­son­ders klar im Blick, die Spra­che, die Ge­sell­schaft. Hier ein Buch­sta­be aus dem ABC un­se­rer Zeit.

In Ber­lin zie­hen die Kra­ni­che mit ih­ren lau­ten Ru­fen über die Dä­cher. Das kit­zelt mei­nen Fern­weh­nerv. So ger­ne wür­de ich jetzt oh­ne Ver­pflich­tun­gen in die Fer­ne auf­brechen, wie ich es nach dem Abi ge­mac­ht ha­be!

Kontinente, Wandernde, Lernende
Reisen bildet
Gibt es eigent­lich Sta­tis­ti­ken da­rü­ber, wie vie­le jun­ge Men­schen ein Aus­tausch­jahr ma­chen, mit In­ter­rail durchs Aus­land rei­sen, nach der Schu­le oder in län­ge­ren Ur­lau­ben oder so­gar dau­er­haft im Aus­land stu­die­ren? Gibt es Zah­len, in de­nen sich ih­re Sprach­kennt­nis­se, ih­re Neu­gier und ihr For­scher­drang ersehen las­sen, und da­mit mei­ne ich nicht die ei­ner Jet­set-Min­der­heit, son­dern je­ner, die wirk­lich ler­nen wol­len?

Denn Rei­sen bil­det. Im Aus­land sind wir die Frem­den, ler­nen oh­ne vie­le Wor­te zu kom­mu­ni­zie­ren, er­fah­ren Gast­freund­schaft oder Miss­trau­en.

Die­se Er­fah­run­gen brin­gen nicht nur Fach­wis­sen, son­dern er­wei­tern un­se­ren Blick auf die Welt. Und es stärkt den Cha­rak­ter, wir ler­nen, uns zu be­haup­ten, mit Ängs­ten um­zu­ge­hen, Kon­sens mit Frem­den zu fin­den, die zu Freun­den wer­den kön­nen. Frü­her war zir­ku­lä­re Mi­gra­tion zu Bil­dungs­zwec­ken der Nor­mal­zu­stand.

Heu­te schlie­ßen sich vie­ler­orts Gren­zen wie­der, wird Viel­falt ab­ge­straft. Nur Eli­ten und Ah­nungs­lo­se pro­fi­tie­ren da­von. Pa­ral­lel da­zu ge­win­nen rechts­ex­tre­me, ras­sis­ti­sche Par­tei­en auf al­len Kon­ti­nen­ten an Ein­fluss.

Ich bin zu­tiefst er­schroc­ken über das Kli­ma der Be­zich­t­i­gung, Ver­dächt­i­gung und Ver­leum­dung von gan­zen Grup­pen, das wir heu­te er­le­ben. Wor­te schaf­fen Bil­der, aus Bil­dern wird Wirk­lich­keit. Wenn Men­schen auf ihr Aus­se­hen re­du­ziert wer­den, ver­schiebt sich das Den­ken hin zu ei­ner ge­fähr­lich nor­ma­li­sier­ten Form der Aus­gren­zung. Das be­rei­tet den Bo­den dafür, sie auch un­mensch­lich zu be­han­deln.

Dem gilt es ent­ge­gen­zu­tre­ten: mit Mut zur Wahr­heit, mit De­mut im Ur­teil und mit Näch­sten­lie­be im Han­deln. Wehr­haf­te De­mo­kra­tie heißt: Recht, Ge­setz, Hal­tung und So­li­da­ri­tät. Es heißt auch, im All­tag Ge­sicht zu zei­gen, Leh­re­rin­nen, Er­zie­her, Po­li­zis­tin­nen, Nach­ba­rin­nen zur Ver­ant­wor­tung zu ap­pel­lie­ren und auf­zu­ste­hen.

Eines der größ­ten, dunk­len Mys­te­ri­en mei­ner Ju­gend und frü­hen Er­wach­se­nen­jah­re löst sich ge­ra­de auf. Lei­der, muss ich sa­gen. Es war die Fra­ge, wie die Ver­fol­gung An­ders­ar­ti­ger in der Na­zi­zeit mög­lich war. Ich le­se täg­lich, was in den USA ge­schieht, und se­he in den Kom­men­ta­ren der „a­so­zia­len Me­di­en“, wie Ma­ni­pu­la­tion funk­tio­niert – durch Bots, die oft auch vom Aus­land fi­nan­ziert wer­den, durch durch Ge­bil­de­te, die sich be­rei­chern, durch Un­ge­bil­de­te, die sich als die ewig Zu­kurz­ge­kom­me­nen se­hen. Die Goeb­bels­schnau­ze von einst ist heu­te der Laut­spre­cher der aso­zia­len Me­dien.

Vie­le der Mäch­ti­gen, in Über­see oder weit öst­lich von uns, wur­den in ei­nem Kli­ma der Ge­walt, des Macht­miss­brauchs und der Ma­ni­pu­la­tion so­zia­li­siert. Nun hat auch Ja­pan ei­ne er­z­kon­ser­va­ti­ve Füh­rung — ei­ne Frau, die „Oran­ge Face“ zu ih­rem Vor­bild er­klärt hat.

Die La­ge ist für vie­le, die hoch­sen­si­bel, em­pa­thisch und weit­sich­tig sind, zer­mür­bend. Bei uns Dol­met­scher:innen ge­hö­ren gutes Hin­hö­ren, Em­pa­thie und Spie­gel­neu­ro­nen, zur DNA. Ich ver­fal­le manch­mal in gro­ße Mü­dig­keit, aber ich wer­de nicht auf­ge­ben. Ich wer­de laut, wo es sein muss, und tre­te ge­gen Ent­mensch­li­chung ein, ge­gen Ver­leum­dung, für Hu­ma­ni­tät, Ge­rech­tig­keit und Mit­mensch­lich­keit.

In un­se­rem Land er­hal­ten heu­te vie­le jun­ge Men­schen ei­ne zu­ge­wand­te Er­zie­hung und Be­glei­tung ins Er­wach­sen­wer­den. Das macht mich froh. Aber nicht al­le wer­den er­reicht. Was wir drin­gend brau­chen, ist mehr Geld für Bil­dung, the­ra­peu­ti­sche Be­hand­lung, aber auch für die Be­ra­tung und Un­ter­stüt­zung über­for­der­ter El­tern. Last but not least: brach­lie­gen­des For­schungs­wis­sen schreit nach In­te­gra­tion in ei­ne ech­te „Schu­le fürs Le­ben“.

Und wie schaf­fen wir es au­ßer­dem, dass gu­te, de­mo­kra­ti­sche, krea­ti­ve Bil­dungs­an­ge­bo­te für al­le so at­trak­tiv wer­den, dass sie kei­ner Wer­bung be­dür­fen?

Ich ha­be mich im­mer für die näch­sten Ge­ne­ra­tio­nen en­ga­giert, als Hoch­schul­do­zen­tin, Patch­work­mut­ter, welt­li­che Pa­ten­tan­te und Tan­te un­se­rer klei­nen Fräu­leins in Süd­deutsch­land, habe viel ge­le­sen und er­fah­ren, bin drau­ßen ak­tiv und als Dol­met­sche­rin bei Kon­fe­ren­zen. Soll­te sich ir­gend­wo ein Think Tank bil­den, der sich die­sen The­men wid­met, ich wä­re da­bei!

______________________________
Bild: pixlr.com (Zu­falls­fund)

Keine Kommentare: