Bonjour und guten Tag! Über den Alltag der Dolmetscher und Dolmetscherinnen schreibe ich hier seit 2007. Mein Beruf hat einen Riesenvorteil: Ich werde fürs Lernen bezahlt, habe Zeit fürs Lernen und Nachdenken. Unsereiner versucht, alles aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten und die Argumente der Debatten zu antizipieren, um Übersetzungslösungen zu suchen. Oft mitten ins Geschehen katupultiert, bin ich kurz darauf wieder auf Distanz und darf nachdenken. Gewichtige Anmoderation eines kurzen Satzes: Heute geht es um Essentielles.
Das ist mir Jacke wie Hose, sagt eine Kollegin, als wir neulich die Arbeit aufgeteilt haben und ich ihr die Wahl überließ, übersetzt: "Mir ist das egal", also durfte ich aussuchen. Da hatte ich die Hose an, da durfte ich bestimmen.
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Der Boomer als Superman |
Redewendungen mit Kleidungsstücken sind in der deutschen Sprache weit verbreitet.
Den Leuten sitzt das Hemd näher als der Rock bedeutet, dass das eigene Interesse wichtiger ist als das allgemeine. Was sollen die Menschen über den Klimawandel denken, wenn sie ihn mancherorts noch kaum spüren, aber nicht mehr wissen, wie sie mit ihrem Geld auskommen sollen, prekär beschäftigt sind oder ihre Kinder in Schulen mit zu wenig Personal und kaputtem Inventar lernen müssen? Die Immobilien- und Wohnungskrise kommt noch obendrauf.
Offenbar gaben solche Themen bei den Wahlen in den USA den Ausschlag. Zu viele Menschen fühlen sich nach Jahren des Existenzkampfes erniedrigt und regelmäßig übervorteilt. Ein Grundton des Beleidigtseins schleicht sich ein, Hass, Neid und Missgunst breiten sich aus.
Solche "Lagen" sind ein gemachtes Bett für Populisten; es scheint die Rache der kleinen Leute zu sein, dem Establishment an der Wahlurne einen Tritt in die Kronjuwelen zu verpassen. Dass die Parteiprogramme der Populisten ihre Lage verschlechtern würden, ahnen sie oft nicht. Hintergrundarbeit, Lektüre, Analyse sind Werkzeuge, deren Vermittlung an den Bildungseinrichtungen vernachlässigt worden sind. (... eine große Baustelle!)
Je ruhiger es in dieser Woche um mich wurde, desto hektischer ging es auf den Bühnen der Politik zu. Dabei wäre jetzt in Deutschland ratsam, die Lehren aus der Entwicklung der USA zu ziehen. Wie wäre es, das politische Kleinklein kurz ruhen zu lassen und einen kühlen Blick auf die Misere zu werfen?
Im parteipolitischen Gerangel blieben die Grundbedürfnisse der Menschen auf der Strecke, was jetzt die Demokratie gefährdet.
Und nun drängen mitten in einer der schweren Krisen der Bundesrepublik einige Akteure in Richtungen, die die Lage weiter destabilisieren könnten — und das in Zeiten von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, eines Kriegs in Europa und einer Klimakrise, die sofortige Aufmerksamkeit und hohe Investitionen erfordern.
Kurz nach der Implosion der Regierung
zaubern einige Politiker, deren Lager über Jahrzehnte an der Entstehung vieler Probleme beteiligt war, um es vorsichtig zu sagen, einfache Lösungen
aus dem Hut und
werfen zugleich den Mantel des Schweigens über ihre Entscheidungen von gestern.
L'habit ne fait pas le moine, heißt es auf Französisch, die Kutte macht noch keinen Mönch ... und der enge, blaue Anzug mit rotem Cape und gelbem Gürtel machen aus einem Boomer keinen Superman!
Erneut kommen bei den ersten Vorschlägen die drängendsten Sorgen der Bevölkerung nicht vor. Das verstärkt die gefährliche Dynamik in der Gesellschaft, gibt der Radikalisierung Auftrieb, denn wer begnügt sich schon mit der Kopie, wenn das "Original" verfügbar ist?
Ein breiter gesellschaftlicher Konsens gegen diese Entwicklungen ist wichtig. Unser Land braucht mehr Menschen mit besonnener politischer Haltung in der Verantwortung, mit Moral, Verstand und Lösungsorientierung, weg von den kalkulierten Verunsicherungen, die uns tiefer in die politische Sackgasse führen.
Sinnvoll wäre es, an den Krisengesprächen Menschen aus der Zivilgesellschaft zu beteiligen, die einen anderen Ton mit einbringen, mehr Demut vor der Größe der Aufgaben mitbringen und die die Stärke besitzen, Fehler einzugestehen. Die aktuelle Krise ist auch eine Krise der Parteipolitik, der überzogenen Imagebildung und des Herumtaktierens (und in Frankreich und den USA eine Krise der Wahlsysteme).
Kurz: In der Not sind Achtsamkeit und Menschlichkeit gefragt, bevor uns die gesellschaftliche Balance endgültig entgleitet — oder, um im Bild zu bleiben, bevor uns die Felle wegschwimmen.
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Illustration: pixlr.com