Mittwoch, 27. November 2024

Der große Wiederkäuer

Sprach­ar­beit setzt Hand­ar­beit vor­aus
Als Dol­met­scher­in schrei­be ich hier seit 2007 über mei­nen All­tag in der Bran­che. Was und wie Dol­met­scher und Dol­met­sche­rin­nen be­schäf­tigt, wie wir ar­bei­ten, ist kaum be­kannt. Heu­te Mor­gen wie­der­hole ich Vo­ka­bel­lis­ten und wid­me mich der Ter­min­pla­nung. Auf dem Blog ist mitt­wochs der­zeit ein Ein­wurf zur Tech­nik fäl­lig. Neu­es zur KI al­so!

Heute: An­la­ge­tipps! Mit mir kön­nen sie rich­tig reich wer­den! 

Nein, das ist ein Scherz, Schus­ter bleib bei Dei­nen Leis­ten! Allerdings werden An­le­ger:­innen wohl bald Geld um­schich­ten. Dafür dürfen wir Men­schen aus der Sprach­ar­beit, damit meine ich Tex­ten, Über­set­zen, Kor­rek­to­rat, Lek­to­rat und auch Dol­met­schen, die von be­sorg­nis­er­re­gen­den Um­satz­ein­brü­chen von 30 bis 80 Pro­zent in die­sem Jahr be­rich­tet ha­ben, wie­der et­was auf­at­men. Vor­erst, denn die Ent­wick­lung geht wei­ter, und die |Ver­spre­chen| Lü­gen der Tech­nik-Nerds ge­hen un­ge­hin­dert wei­ter, Zi­tat von ei­nem An­bie­ter:
Durch den Einsatz von KI-gestütztem Dolmetschen sparen Sie erheblich im Vergleich zu herkömmlichen Simultan-Dolmetschern. Die Kosten für menschliche Dolmetscher können schnell in die Höhe schießen, insbesondere bei mehrsprachigen Veranstaltungen. Unsere KI-Lösung bietet eine kosteneffiziente Alternative, ohne besondere Abstriche bei der Qualität zu machen.
'Oh­ne be­son­de­re Qua­li­täts­ab­stri­che' — das ist ir­re­füh­ren­de Wer­bung, sonst nichts.

Der Hype zur KI, an­geb­lich "Künst­li­che In­tel­li­genz", geht auf einen Über­set­zungs­feh­ler zu­rück, denn in­tel­li­gence meint hier le­dig­lich Da­ten­ver­ar­bei­tung, das Schil­lern der Be­deu­tun­gen ist aber Ab­sicht, ei­gent­lich ein Mar­ke­ting­gag. Die KI be­steht aus "prä­dik­ti­ven Sprach­mo­del­len", Large Lan­guage Mo­dels (LLMs), die mit vie­len Da­ten ge­füt­tert wor­den sind, von de­nen vie­le feh­ler­haft sind, ich sage nur Lai­en- oder Schwur­bler­sei­ten, oder aber ge­stoh­len wor­den sind (Ur­he­ber­recht ist hier ein gro­ßes Thema).

Auf­grund der Da­ten­sät­ze er­rech­nen sie dann, was mit ho­her Wahr­schein­lichkeit auf die­sen oder je­nen Be­griff fol­gt. Das ist häu­fig so ak­ku­rat wie die Au­to­ver­voll­stän­di­gung bei man­chen Apps, näm­lich eher nicht.

Jetzt ist ei­ne Grup­pe von Apple-For­schern (Link) mit die­sem The­ma in die Öf­fent­lich­keit ge­gan­gen: Große Sprach­mo­del­le den­ken nicht wirk­lich. Sie re­pro­du­zie­ren Ant­wor­ten auf­grund von Da­ten, ha­ben aber kei­ne ech­te Fä­hig­keit zu lo­gi­schem Den­ken. 

Der Rück­griff der Al­go­rith­men auf Mil­li­ar­den von Pa­ra­me­tern und ihre Re­kom­bi­na­tion ist nur die Il­lu­sion von In­tel­li­genz. Al­les an­de­re be­deu­tet, die Sprach­mo­del­le zu über­schät­zen.

Was be­deu­tet das für un­se­ren Um­gang mit der KI?

1. KI nur ein Werk­zeug

Da die KI nicht "den­ken", son­dern nur be­reits Ver­öf­fent­lich­tes wie­der­käu­en kann, dür­fen wir sie als Werk­zeug be­grei­fen, als bes­se­ren Text­edi­tor, aber nicht als Er­satz für krea­ti­ves oder ana­ly­ti­sches mensch­li­ches Den­ken. Die Vor­stel­lung von einer "all­wis­sen­den" KI ist ein Nar­ra­tiv des Mar­ke­tings, um In­ves­ti­tio­nen an­zu­zie­hen, hat aber mit der Rea­li­tät nichts zu tun.

2. Ri­si­ken für die Wirt­schaft
Die Desil­lu­sio­nie­rung in Be­zug auf LLMs könn­te Start-ups ins Wan­ken brin­gen, die auf die­ser Tech­nik be­ru­hen. In­ves­to­ren, die Mil­li­ar­den in die­se Ent­wick­lun­gen ge­steckt ha­ben, könn­ten ei­nen Rück­zug oder Um­schich­tun­gen ein­lei­ten ... mit allen Fol­gen für die­sen neu­en Ar­beits­markt, der hei­ße Luft verkauft. Auf der an­de­ren Seite dürf­te bald die Ar­beit ech­ter Krea­ti­ve wie­der stär­ker nach­ge­fragt wer­den.

3. Lernen, nicht glauben
KI ist leistungs­stark, aber nur in man­chem Kon­text. So blei­ben zum Bei­spiel Dol­met­sche­r:in­nen, die Dia­lekte ver­stehen oder Nu­ancen wie Iro­nie und Sar­kas­mus er­ken­nen können und die im Zwei­fels­fall Rück­fra­gen stel­len, un­er­setz­lich. Wir Men­schen kom­bi­nie­ren Wis­sen, Er­fah­rung und In­tu­i­tion, was keine der KIs auf dem Markt nach­ah­men kann  und ohne Er­fah­rung, Vor­wis­sen, die Kennt­nis der Sprech­ab­sich­ten und Er­war­tun­gen der Emp­fän­ger sowie ohne mensch­liche Fä­hig­kei­ten wie Empa­thie oder Le­sen der Kör­per­sprache auch nicht ler­nen kann.

4. Vie­le ethi­sche De­bat­ten
Wenn Un­ter­neh­men die Schwä­chen ih­rer Mo­del­le ver­schwei­gen und trotz­dem Mil­li­ar­den mo­bi­li­sie­ren, könn­ten wir es mit ei­ner mo­ra­li­schen Kri­se zu tun be­kom­men. Wer trägt die Ver­ant­wor­tung für fal­sche Ent­schei­dun­gen, die auf KI-Er­geb­nis­sen be­ru­hen? Und was be­deu­tet die KI für die Zu­kunft vie­ler Be­rufe, Stu­di­en­gän­ge und die Lern­mo­ti­va­ti­on des Nach­wuch­ses?

5. Die Rol­le von For­schern
Der Mut von Ap­ple-For­schern, Schwä­chen der Tech­no­lo­gie auf­zu­de­cken, zeigt, dass es auch in­ner­halb der Tech-In­dus­trie ei­nen drän­gen­den Be­darf an kri­ti­scher Re­fle­xi­on gibt.
* * *

Mich über­ras­chen diese Er­geb­nis­se nicht. Wir haben es mit einem Tech­nik­hype zu tun, und neuen Tech­ni­ken wird tra­di­ti­o­nel­l in un­se­ren Ge­sell­schaf­ten rascher ge­glaubt als alten Ha­sen oder Hä­sin­nen. Aber ich muss die Sache um­dre­hen: Was wä­re, wenn die KI ei­nes Tages wirk­lich selb­st­än­dig zu "den­ken" an­fin­ge? Ich hal­te das für pu­ren Ani­mis­mus, aber wä­re die KI am En­de klug, wür­de sie se­hen, dass der Ho­mo Sa­pi­ens ein Schä­dling ist auf sei­nem Hei­mat­glo­bus, und sie könn­te die Kon­se­quen­zen zie­hen. Auch hier scheint sich nie­mand ge­wapp­net zu ha­ben.

Schluss mit dem dys­to­pi­schen Ge­rau­ne. Zu­rück zum 4. Punkt, er ist wich­tig. Die KI wird mit an­de­ren Mo­del­len wei­ter­ent­wi­ckelt und be­droht auch im ak­tu­el­len Sta­di­um fort­ge­setzt die Le­bens­grund­la­ge vie­ler, weil das all­ge­mei­ne Sprach­ni­veau und die An­sprü­che über­all sin­ken, eben auch be­för­dert von die­ser si­mu­lier­ten In­tel­li­genz. Stu­di­en­gänge werden der­zeit all­zu leicht­fer­tig ge­schrumpft, Schü­ler und Stu­den­tin­nen ent­mu­tigt.

Und ja, Um­satz­ver­lus­te in den oben be­nan­nten Be­ru­fen sind Re­a­li­tät, und auch wenn sich die Hoch­sta­pe­lei her­um­ge­spro­chen haben wird, dürfte sich so schnell in Zei­ten der Mul­ti­kri­sen und der ge­kürz­ten Bud­gets für die reine Text­ar­beit nichts än­dern. An­ders sieht es mit dem Dol­met­schen aus, der Markt war bis­lang nur im Be­reich Mes­sen be­schä­digt. Wir müs­sen jetzt Auf­klä­rungs­ar­beit leis­ten.

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Fo­to: Ar­chiv Elias Los­sow
(He­di am Schreib­tisch, 1934)

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