Donnerstag, 7. November 2024

Jacke wie Hose

Bon­jour und gu­ten Tag! Über den All­tag der Dol­met­scher und Dol­met­sche­rin­nen schrei­be ich hier seit 2007. Mein Be­ruf hat ei­nen Rie­sen­vor­teil: Ich werde fürs Ler­nen be­zahlt, habe Zeit fürs Ler­nen und Nach­den­ken. Un­se­rei­ner ver­sucht, alles aus ver­schie­dens­ten Per­spek­ti­ven zu be­trach­ten und die Ar­gu­men­te der De­bat­ten zu an­ti­zi­pie­ren, um Über­set­zungs­lö­sun­gen zu su­chen. Oft mit­ten ins Ge­sche­hen ka­tu­pul­tiert, bin ich kurz dar­auf wie­der auf Dis­tanz und darf nach­den­ken. Ge­wich­ti­ge An­mo­de­ra­ti­on eines kur­zen Sat­zes: Heute geht es um Es­sen­ti­el­les.

Das ist mir Jacke wie Hose, sagt eine Kol­le­gin, als wir neu­lich die Ar­beit auf­ge­teilt ha­ben und ich ihr die Wahl über­ließ, über­setzt: "Mir ist das egal", also durfte ich aus­su­chen. Da hat­te ich die Ho­se an, da durf­te ich be­stim­men.

Der Boo­mer als Super­man
Re­de­wen­dun­gen mit Klei­dungs­stü­cken sind in der deut­schen Spra­che weit ver­brei­tet. Den Leu­ten sitzt das Hemd näher als der Rock be­deu­tet, dass das ei­ge­ne In­ter­es­se wich­ti­ger ist als das all­ge­mei­ne. Was sol­len die Men­schen über den Kli­ma­wan­del den­ken, wenn sie ihn man­cher­orts noch kaum spü­ren, aber nicht mehr wis­sen, wie sie mit ihrem Geld aus­kom­men sol­len, prekär be­schäf­tigt sind oder ihre Kin­der in Schu­len mit zu wenig Per­so­nal und ka­put­tem In­ven­tar ler­nen müs­sen? Die Im­mo­bi­lien- und Woh­nungs­kri­se kommt noch oben­drauf.
Of­fen­bar ga­ben sol­che The­men bei den Wah­len in den USA den Aus­schlag. Zu viele Men­schen füh­len sich nach Jah­ren des Exis­tenz­kamp­fes er­nied­rigt und re­gel­mä­ßig über­vor­teilt. Ein Grund­ton des Be­lei­digt­seins schleicht sich ein, Hass, Neid und Miss­gunst brei­ten sich aus.

Sol­che "La­gen" sind ein ge­mach­tes Bett für Po­pu­lis­ten; es scheint die Ra­che der klei­nen Leu­te zu sein, dem Es­ta­blish­ment an der Wahl­ur­ne einen Tritt in die Kron­ju­we­len zu ver­pas­sen. Dass die Par­tei­pro­gram­me der Po­pu­lis­ten ihre Lage ver­schlech­tern wür­den, ahnen sie oft nicht. Hin­ter­grund­ar­beit, Lek­tü­re, Ana­ly­se sind Werk­zeu­ge, deren Ver­mitt­lung an den Bil­dungs­ein­rich­tun­gen ver­nach­läs­sigt worden sind. (... eine große Bau­stel­le!)

Je ru­hi­ger es in die­ser Woche um mich wur­de, des­to hek­ti­scher ging es auf den Büh­nen der Po­li­tik zu. Da­bei wä­re jetzt in Deutsch­land rat­sam, die Leh­ren aus der Ent­wick­lung der USA zu zie­hen. Wie wäre es, das po­li­ti­sche Klein­klein kurz ruhen zu las­sen und einen küh­len Blick auf die Mi­se­re zu wer­fen?

Im par­tei­po­li­ti­schen Ge­ran­gel blie­ben die Grund­be­dürf­nis­se der Men­schen auf der Stre­cke, was jetzt die De­mo­kra­tie ge­fähr­det. 

Und nun drän­gen mit­ten in ei­ner der schwe­ren Krisen der Bun­des­re­pu­blik eini­ge Ak­teu­re in Rich­tun­gen, die die Lage wei­ter des­ta­bi­li­sie­ren könn­ten — und das in Zei­ten von wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten, eines Kriegs in Eu­ro­pa und einer Kli­ma­kri­se, die so­for­ti­ge Auf­merk­sam­keit und hohe In­ves­ti­tio­nen er­for­dern.

Kurz nach der Im­plo­si­on der Re­gie­rung zau­bern eini­ge Po­li­ti­ker, deren La­ger über Jahr­zehn­te an der Ent­ste­hung vie­ler Pro­ble­me be­tei­ligt war, um es vor­sich­tig zu sa­gen, ein­fa­che Lö­sun­gen aus dem Hut und wer­fen zu­gleich den Man­tel des Schwei­gens über ihre Ent­schei­dun­gen von ges­tern. L'ha­bit ne fait pas le moine, heißt es auf Fran­zö­sisch, die Kut­te macht noch kei­nen Mönch ... und der en­ge, blaue An­zug mit ro­tem Cape und gel­bem Gür­tel ma­chen aus ei­nem Boo­mer kei­nen Su­per­man!

Erneut kommen bei den ers­ten Vor­schlä­gen die drän­gends­ten Sor­gen der Be­völ­ke­rung nicht vor. Das ver­stärkt die ge­fähr­li­che Dy­na­mik in der Ge­sell­schaft, gibt der Ra­di­ka­li­sie­rung Auf­trieb, denn wer be­gnügt sich schon mit der Ko­pie, wenn das "Ori­gi­nal" ver­füg­bar ist?

Ein brei­ter ge­sell­schaft­li­cher Kon­sens gegen diese Ent­wick­lun­gen ist wich­tig. Un­ser Land braucht mehr Men­schen mit be­son­ne­ner po­li­ti­scher Hal­tung in der Ver­ant­wor­tung, mit Mo­ral, Ver­stand und Lö­sungs­ori­en­tie­rung, weg von den kal­ku­lier­ten Ver­un­si­che­run­gen, die uns tie­fer in die po­li­ti­sche Sack­gas­se füh­ren.

Sinn­voll wäre es, an den Kri­sen­ge­sprä­chen Men­schen aus der Zi­vil­ge­sell­schaft zu be­tei­li­gen, die einen an­de­ren Ton mit ein­brin­gen, mehr De­mut vor der Größe der Auf­ga­ben mit­brin­gen und die die Stärke be­sit­zen, Feh­ler ein­zu­ge­ste­hen. Die ak­tu­el­le Krise ist auch eine Krise der Par­tei­po­li­tik, der über­zo­ge­nen Image­bil­dung und des Her­um­tak­tie­rens (und in Frank­reich und den USA eine Krise der Wahl­sys­te­me).

Kurz: In der Not sind Acht­sam­keit und Mensch­lich­keit ge­fragt, bevor uns die ge­sell­schaft­li­che Ba­lan­ce end­gül­tig ent­glei­tet — oder, um im Bild zu blei­ben, be­vor uns die Felle weg­schwim­men.

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Il­lus­tra­tion: pixlr.com

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