Montag, 19. September 2011

Mithörmuschel

Wir Spracharbeiter müssen Wortarchäologen und -konservatoren sein. Wir graben in Büchern, in alten Lexika, Zeitschriften und auf Flohmärkten. Wir heben Schätze, legen sie frei, polieren sie wenn nötig. Was besonders oder besonders schön ist, wandert ins Museum. Heute eröffne ich eine neue Reihe, das "Sprachmuseum", das unter der Kategorie "Sprachschatz" ablege.

Ein Film, der in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, zeigt andere Kommunikation als heutige Filme, vor allem dann, wenn sie mit Hilfsmitteln stattfindet. Beispiel: Truffauts La femme d'à côté ("Die Frau von nebenan"), wo zwei Nachbarn, die sich heimlich lieben, zeitgleich zum Telefonhörer greifen und es besetzt tutet. Dann warten sie am Telefon. (Hier bereits von mir beschrieben.)

Mithörmuschel an der Rückseite
Oder Bilder wie dieses, auch aus vergangenen Zeiten: Ein verliebter Teenager wartet auf den Anruf. Das Mädchen sitzt fast auf dem Telefon. Die Telefonschnur bestimmt ihren Aktionsradius. Auch das Wort Schnurlostelefon gehört ins Sprachmuseum. (Wie zeigen heutige Regisseure dieses verzweifelte, untätige Warten, wo jede(r) ein Handy mit sich trägt?)

Zur Schnur des Telefons gehört bei ganz alten Modellen die Wählscheibe. Das Sich-Verwählen bei der letzten Nummer. Die Abwesenheit einer Wahlwiederholungstaste. Für Westkinder gehört auch das Telefongespräch dazu, das in den Städten der 70-er Jahren und länger noch in Westberlin nur eine Einheit kostete. Wir haben oft Hausaufgaben gemacht, der direkte Draht zur besten Freundin lag per Telefonhörer daneben. Sätze wie: "Die Kinder blockieren das Telefon."

Erinnert sich noch jemand an das "Fasse Dich kurz?" auf postgelben Telefonhäuschen?

In Frankreich gab es noch die Mithörmuschel, sie klemmte an der Rückseite des Telefons hinter dem Telefonhörer. Bei manchen Gesprächen konnte man sich nicht sicher sein, dass nicht auf der anderen Seite, vom Gesprächspartner geduldet, jemand mithörte.

Die Recherchearbeit, die wir Übersetzer bei historischen Stoffen machen müssen, ist übrigens vergleichbar mit dem Mehraufwand, den Filmausstatter und Kostümbildner haben. Daher ist die Übersetzung von Drehbüchern, die in der Vergangenheit spielen, auch etwas teurer als von zeitgenössischen.

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Foto: privat (Archiv)

2 Kommentare:

A.B. hat gesagt…

Hier, für Dich:
Das Mädchen von einst, das durch den Festanschluss zu Hause festsaß, sitzt am Lenkrad ihres sonst leeren, schnittigen Autos, rast über die Autobahn und spricht vor sich hin. Dann, plötzlich, sagt sie: "Ich muss aufhören, es hat gerade bei mir angeklopft. (Das Kabel der Fernspreche sieht man erst auf den dritten Blick.)
Gruß, A.B.

caro_berlin hat gesagt…

Cool, Danke :-)
Rückgruß!