Freitag, 23. September 2011

Keine Schultüte

Will­kom­men auf den Blog­seiten einer Fran­zö­sisch­dol­met­scherin und -über­setzerin. In meinem vir­tu­el­len Ar­beits­ta­ge­buch be­rich­te ich über den Be­ruf und auch über Be­son­der­hei­ten meiner "Heimatländer".

Französische Kinder kennen keine Schultüte. Und in Deutschland hingegen ist la rentrée so gut wie unbekannt.

Der französische Bücherherbst 2010
La rentrée ist ein jährlich auftretendes Ritual, das alle Gesellschaftsschichten erfasst, zumindest sprachlich: Es gibt jeweils einen Saisonauftakt für die Literatur, fürs Theater, einen Wiederbeginn des gesellschaftliche Lebens nach der Sommerpause, den Semesterbeginn an der Uni und eben das Schulferienende — la rentrée littéraire / théâtrale / sociale / universitaire / scolaire — und etliche weitere Deklinierungen.

La rentrée heißt übersetzt "Rückkehr" oder "Nachhausekommen". Los geht es Anfang September, wenn alle Schüler an ein- und demselben Datum wieder in die Stätten ihrer Bildung zurückkehren. Dem gehen natürlich die grandes vacances voraus, die "großen Ferien", die zurecht so heißen, weil sie in Frankreich zwei Monate dauern. Anders als bei den kürzeren Ferien gibt es im Sommer keine Staffelung der Schulferien je nach Region. In Frankreich gilt seit Men­schen­ge­den­ken: Juli und August sind Sommerferien, viele Betriebe und Behörden verbinden damit ihre congés annuels, den Jahresurlaub, und machen einfach dicht.

Franzosen verbringen anscheinend ihre Ferien am liebsten gemeinsam im Stau, an überfüllten Stränden und Restaurants. Parisbesuchern bietet sich im August hingegen eine nahezu himmlische Stille, wenn nicht überall die viele Touristen wären. Dass die Stadt wie ausgestorben wirkt, schließt stundenlange Wanderungen auf der Suche nach einer geöffneten Bäckerei ein.

Wie gesagt, Anfang September ist das alles zuende. Dass infolgedessen auch das Jahr häufig als "Saison" gedacht wird, also die rentrée wie ein kleines Sylvester, überrascht viele Deutsche.

In Deutschland gibt's zu diesem Zeitpunkt etwas, das anders ist als in Frankreich, und es ist sogar sichtbar: Die Schultüte. Und weil dieses bewährte und beliebte Einschulungsmöbel in Frankreich unbekannt ist, bietet das digitale Wörterbuch LEO auch mehr eine Erklärung als eine Übersetzung an: cornet offert aux enfants qui rentrent à l'école primaire, rempli de sucreries et de petit matériel scolaire, zu Deutsch: "Eine spitze Tüte, die Kinder geschenkt bekommen, die in die Grundschule eintreten, gefüllt mit Süßigkeiten und kleinerem Schulmaterial." Und offensichtlich, siehe Foto, gibt's in Deutschland die Schultüte auch noch nicht lange für alle Kinder.

Streng dreinblickende junge Dame mit "Tornister" und Schiefertafel
(Noch) Schultütenlose Deutsche vom
Beginn des  20. Jahrhunderts
Das haben Frankreich und die DDR gemeinsam: Schulanfang nach den großen Ferien ist/war immer gleich Anfang September. In der Bundesrepublik von heute sind mit den Bayern die letzten Südlichter jetzt auch seit zehn Tagen wieder in der Schule.

Dies nicht nur als landeskundlicher Beitrag, sondern etwas für die Liste im Rahmen der Diskussion, warum in Deutschland Übersetzungen in der Regel nicht mit dem Wortpreis, sondern entsprechend der Zahl der Anschläge (inklusive Leerzeichen) berechnet werden.

Und ganz rituell schreibe auch ich im Herbst über die rentrée, hier der Eintrag von 2010.

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Altes Foto: Flohmarktfund, leider ist
das Jahr unleserlich

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