Sonntag, 29. Juni 2025

Echter Konservatismus ist progressiv

Bon­jour, hello & gu­ten Tag! Hier le­sen Sie in Be­rich­ten aus dem Le­ben von Über­set­ze­rin­nen, Über­set­zer, Dol­met­scher­in­nen und Dol­met­scher. Ich bin Fran­zö­sisch­dol­met­sche­rin und ar­bei­te auch mit Eng­lisch (das Id­i­om Shake­spea­res nur als Aus­gangs­spra­che). Sonn­tags werde ich pri­vat, aber mei­ne Ge­dan­ken sind das heu­te gar nicht.

PRES­SE­LEK­TÜ­RE am Sonn­tag. Der Vize­kanz­ler fällt beim Par­tei­tag in der Zu­stim­mung der ei­ge­nen Par­tei zu­rück. Eines sei­ner Wahl­ver­spre­chen — der Min­dest­lohn von 15 € — bleibt bis­lang un­er­füllt. Es wirkt, als set­ze sich in der Ko­a­li­tion vor al­lem die stär­ke­re Kraft durch. Klei­ne und mit­tle­re Ein­kom­men ge­ra­ten aus dem Blick. Doch bräuch­ten wir jetzt eine Po­li­tik, die brei­ten Rück­halt fin­det, über al­le La­ger hin­weg.

Buchstaben auf Wand: misanfobia
Gesehen in Berlin
Gleich­zei­tig wird an­ge­kün­digt, dass Ge­flüch­te­te mit sub­si­di­ä­rem Schutz­sta­tus zwei Jah­re lang kei­ne An­ge­hö­ri­gen nach­ho­len dür­fen. Das trifft über­wie­gend Frau­en und Kin­der. Es fällt schwer, die­sen Schritt mit christ­li­chen oder hu­ma­ni­tä­ren Wer­ten zu ver­ein­ba­ren.

Im Land sinkt die all­ge­mei­ne Le­bens­zu­frie­den­heit, das zei­gen Um­fra­gen.

Ver­spro­chen wur­den mit der Glo­ba­li­sie­rung stei­gen­de Ein­kom­men für al­le. Die In­fla­ti­on je­doch zehrt sie auf. Die Le­bens­mit­tel­prei­se sind seit Be­ginn des Kriegs in der Uk­rai­ne um fast 50 % ge­stie­gen, die Mie­ten im letz­ten Jahr­zehnt gar um mehr als 100 %. Die Zahl der Men­schen, die zur Ta­fel ge­hen, steigt ste­tig.

(Aus mei­ner Sicht, ich bin in den 1970ern auf­ge­wach­sen, war die so­zia­le Un­gleich­heit da­mals weit we­ni­ger spür­bar. Die „Ta­feln“ heu­te er­in­nern mich an Al­mo­sen­ver­tei­lung. Die Ver­sor­gung der Schwäch­sten ge­hört in staat­li­che Ver­ant­wor­tung.)

1989 ZER­BRACH der Ost­block. Im Wes­ten hieß das Ge­gen­mo­dell „so­zia­le Markt­wirt­schaft“. Da­mals war es selbst­ver­ständ­lich, den Un­ter­schied zur DDR sicht­bar zu ma­chen, nicht nur durch Wor­te, son­dern durch kon­k­re­te Po­li­tik. Heu­te wirkt vie­les da­von ver­ges­sen. Der so­zia­le Woh­nungs­bau wur­de zu­rück­ge­fah­ren, öf­fent­li­che Ver­kehrs­mit­tel ver­nach­läs­sigt, Bil­dungs­ein­rich­tun­gen dif­fe­ren­zie­ren stär­ker denn je.

Für Kin­der hängt der Bil­dungs­er­folg von Her­kunft und Geld­beu­tel der El­tern ab, und das so stark wie sonst in kaum ei­nem ent­wic­kel­ten Land (Quel­le: OECD). Die Ideen von Chan­cen­gleich­heit und Auf­stiegs­ver­spre­chen sind Ge­schich­te.

Die Glo­ba­li­sie­rung brach­te güns­ti­ge En­er­gie und güns­ti­ge Wa­ren, aber nur auf den ers­ten Blick, weil wir die Fol­ge­kos­ten aus­klam­mern. Zug­leich sind die öko­lo­gi­schen Be­las­tun­gen un­über­seh­bar ge­wor­den. Das Wis­sen dar­über war längst vor­han­den, es wur­de nur sel­ten nach­ge­fragt.

Heu­te ist En­er­gie teu­er, die Schä­den an der Na­tur be­tref­fen uns al­le. Trotz­dem wird noch im­mer ge­gen ei­nen Wan­del an­ge­ar­bei­tet. Tei­le der Pres­se spie­len da­bei eine frag­wür­di­ge Rol­le, zu groß ist der Ein­fluss be­stimm­ter In­ter­es­sen­grup­pen. Der Jour­na­lis­mus wur­de in den letz­ten Jahr­zehn­ten aus­ge­höhlt: We­ni­ger Zeit, we­ni­ger Re­cher­che, we­ni­ger Un­ab­hän­gig­keit. Und in den so­zia­len Me­di­en lässt sich Mei­nung leicht ma­ni­pu­lie­ren ... durch Kam­pag­nen, Bots und ge­ziel­te Stim­mungs­ma­che.

ICH BIN DANK­BAR. Durch den Be­rufs­wech­sel ha­be ich mehr Zeit zum Ein­le­sen. Auf mei­nen Rei­sen als Dol­met­sche­rin durf­te ich Dör­fer se­hen, in de­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger selbst ak­tiv ge­wor­den sind. En­er­gie­pro­jek­te, die Wind- oder Bio­gas­an­la­gen be­trei­ben, Pho­to­vol­ta­ik fast über­all, so­gar auf Bus­war­te­häus­chen. Der Strom ver­sorgt die Nach­bar­stadt mit. Neue Ar­beits­plät­ze ent­ste­hen, die Raif­fei­sen­stütz­punk­te blei­ben er­hal­ten. Ein Stück re­gio­na­le Iden­ti­tät kehrt zu­rück, et­wa durch Saat­gut­in­i­ti­a­ti­ven.

In einem Ort konn­te durch die Ein­nah­men aus Bür­ger­en­er­gie das Kul­tur­haus sa­niert wer­den, nam­haf­te Künst­ler gas­tie­ren dort. Ein leer­ste­hen­des Ge­bäu­de wur­de zur Dienst­woh­nung für ein Ärz­te­paar, das die ver­wais­te Pra­xis über­nahm. Men­schen zo­gen zu, dar­un­ter Fa­mi­lien und Äl­te­re. Seit der Pan­de­mie ist Ho­me­of­fice für vie­le All­tag. Die Dorf­kul­tur blüht wie­der auf, Schu­le, Feu­er­wehr, Fuß­ball­ver­ein; so­gar ei­ne Markt­gär­tnerei und ei­nen ge­nos­sen­schaft­lich be­trie­be­nen Dorf­la­den gibt es nun. Ein pen­deln­der Bä­cke­rei­an­ge­stell­ter nutzt sams­tags das his­to­ri­sche Back­haus für ech­tes Land­brot.

ER­FOLGS­GE­SCHICH­TEN sind kein Zu­fall. Die Tech­nik für de­zen­tra­le En­er­gie­ver­sor­gung schreitet vor­an. Auf Um­welt­mes­sen se­he ich re­gel­mä­ßig Neu­e­run­gen, z. B. klei­ne, leis­tungs­star­ke Wind­tur­bi­nen in Form von Dach­rei­tern auf Pri­vat­häu­sern. Der Markt ent­wi­ckelt sich ra­sant, dort, wo er ge­las­sen wird.

An­de­re Bran­chen ver­lie­ren an Be­deu­tung: in­dus­tri­el­le Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­ti­on, in­ter­natio­nale Saat­gut­kon­zer­ne, die fos­sile En­er­gie­branche. In ei­nem Dorf wer­den Land­ma­schi­nen und in­zwi­schen auch Au­tos ge­mein­schaft­lich ver­wal­tet. Nie­mand ver­teu­felt dort die Er­rung­en­schaf­ten der Mo­der­ne. Sie wer­den nur an­ders ge­nutzt.

Die­se Dör­fer zei­gen: At­trak­tive Ge­mein­den ent­ste­hen nicht zu­fäl­lig. Sie sind das Er­geb­nis kla­rer Ent­schei­dun­gen. Und oft steckt bür­ger­li­ches En­ga­ge­ment da­hin­ter. Ich möch­te man­cher staat­li­chen Stel­le Dan­ke sagen, denn durch meine Dol­met­sch­ar­beit auf Rei­sen wurden mir in letz­ten Jah­ren viele Per­spek­tiven er­öff­net.

Der Ent­zug von An­schub­sub­ven­tio­nen oder so­gar neue Steu­ern auf nach­hal­tige En­er­gien dro­hen der­zeit al­ler­dings den neu­en Tech­no­lo­gien den Ga­raus zu ma­chen. Un­ver­ständ­lich bis heu­te: wie ei­ne Par­tei, die sich kon­ser­va­tiv nennt, so die deut­sche So­lar­in­dus­trie zer­stört hat.

ZU­RÜCK IN DIE GROSS­STADT. Als Lern­hel­fe­rin für Ju­gend­li­che mit an­de­rer Fa­mi­lien­sprache als Deutsch er­le­be ich, wo Struk­tu­ren feh­len: ru­hi­ge Lern­or­te, Frei­zeit­an­ge­bo­te, Räu­me für Ent­wick­lung. Die Idee: Bei Schul­neu- und Um­bauten ei­nen zwei­ten Ein­gang schaf­fen zur Schü­ler­bü­che­rei, Kü­che, Grup­pen­räu­men, of­fen auch in den Fe­ri­en, be­treut von So­zi­al- und Kul­tur­ar­bei­ter:in­nen.

Der­zeit se­hen wir das Ge­gen­teil: in Ber­lin wur­den hier fürs näch­ste Schul­jahr für die­se Ar­beit Gel­der ge­stri­chen. Man­ches Hort­team wird in­zwi­schen eh­ren­amt­lich ak­tiv, um Kin­dern zu hel­fen, die in den Fe­ri­en in Ber­lin blei­ben. Dabei ist die staat­li­che Fi­nan­zie­rung von Fe­ri­en­la­gern wich­tig. (In man­chem Bun­des­land sind hier mut­maß­lich ver­fas­sungs­feind­li­che Grup­pie­run­gen ak­tiv.)

Je­des fünf­te Kind in Deutsch­land lebt un­ter­halb oder an der Ar­muts­gren­ze, so die Bertels­mann-Stif­tung. Rund 3,3 Mil­lio­nen Be­rufs­tä­tige brau­chen laut Bun­des­an­stalt für Ar­beit zu­sätz­lich Bür­ger­geld. Die Miet­be­las­tung steigt, Zu­schüs­se sind ge­deck­elt. Man­che El­tern ver­zich­ten still­schwei­gend auf Mahl­zei­ten, da­mit die Kin­der ein sta­bi­les Um­feld be­hal­ten. An Kin­dern, an der Bil­dung zu spa­ren, halte ich für ein Ver­bre­chen. Wir brau­chen je­des Ta­lent. Sie sind un­ser ein­zi­ger Roh­stoff.

DEUTSCH­LAND ist ein rei­ches Land. Um­so mehr for­dern in­zwi­schen auch Men­schen aus bür­ger­li­chen, kirch­lich oder hu­ma­nis­tisch ge­präg­ten Mi­lieus deut­li­che Ver­än­de­run­gen. Der Ein­fluss ex­trem Ver­mö­gen­der muss ein­ge­hegt wer­den. Ihr über­mä­ßi­ger CO₂-Aus­stoß, ihr Zu­griff auf po­li­tische Ent­schei­dungs­pro­zes­se be­schä­digt De­mo­kra­tien, sie­he USA. Jüngs­tes Sym­bol: die pri­va­te Fei­er eines der Tech-Mil­liar­dä­re, die halb Ve­ne­dig ta­ge­lang lahm­legt.

Auch in Deutsch­land braucht es stär­ke­re de­mo­kra­tische Kon­trol­le. Haus­halts­gel­der wie der KTF, ur­sprüng­lich zur För­de­rung von Kli­ma­schutz und In­fra­struk­tur vor­ge­se­hen, dür­fen nicht um­ge­lenkt wer­den, schon gar nicht ein­sei­tig zu­guns­ten je­ner, die oh­ne­hin über Res­sour­cen ver­fü­gen. Wer Kli­ma­neu­tra­li­tät bis 2045 tor­pe­diert, ver­stößt ge­gen das Grund­ge­setz. Auch wer das So­zia­le aus­klam­mert, al­so den we­ni­ger Be­gü­ter­ten Un­ter­stüt­zung ver­wei­gert, ver­fehlt das Ziel.

Der Be­griff kon­ser­va­tiv stammt vom la­tei­ni­schen con­ser­va­re ab, be­wah­ren, er­hal­ten, be­hü­ten. Ur­sprüng­lich ging es um das Fest­hal­ten an dem, was sich be­währt hat, nicht um blin­de Ab­leh­nung des Neu­en. Ech­ter Kon­ser­va­tis­mus schützt Grund­la­gen, er­mög­licht Wei­ter­ga­be und Zu­kunft, nicht Still­stand. Ihm ge­gen­über steht das Dis­rup­tive, vom la­tei­ni­schen dis­rum­pe­re, „zer­rei­ßen, zer­schla­gen“, also das Auf­bre­chen be­ste­hen­der Struk­tu­ren, oft oh­ne Rück­sicht auf Ver­lus­te.
Doch wer heu­te wirk­lich be­wah­ren will, muss sich dem Wan­del stel­len. Wer an über­kom­me­nen Struk­tu­ren fest­hält und Fort­schritt ver­hin­dert, ver­rät den kon­ser­va­tiven Geist. Zu­kunfts­si­che­rung ist das neue Be­wah­ren.

EDIT. Kaum war der Bei­trag fer­tig, kam die­se Mel­dung: Für den Kli­ma­so­zi­al­plan kann Deutsch­land 5,3 Mil­li­ar­den Euro EU-Zu­schüs­se be­an­tra­gen, er­gänzt durch na­tür­lich er­for­der­li­che Bun­des­mit­tel. Der An­trag muss bis zum 30. Juni 2025 bei der EU-Kom­mis­sion ein­ge­hen. Bis­lang liegt kei­ne Ei­ni­gung auf kon­k­re­te Ent­las­tun­gen der Bür­ger:­in­nen vor, für die die Mit­tel ein­ge­setzt wer­den könn­ten. Oh­ne Ein­rei­chung ver­fal­len die Zu­schüs­se.

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Foto: C.E.

1 Kommentar:

Vega hat gesagt…

Es sieht so aus, liebe Caroline, als wären die EU-Gelder nicht perdü, sondern nur verzögert. Andere Staaten sind wie Deutschland zu spät dran. Die Zeit zwischen Regierungsantritt und Ende Juni war kurz, und wie wir die aktuelle Regierung kennen, wollten sie kein vorhandenes Material einreichen. Es geht wohl ziemlich genau um die Summe, die derzeit als Stromsteuerentlastung für Mittelstand und Privatverbraucher:innen NICHT kommt. Und nein, das alles ist weder schön noch geräuschlos.
Gruß, Bine

https://www.spiegel.de/wirtschaft/energiewende-deutschland-droht-verzoegerung-bei-auszahlung-von-eu-milliarden-a-2bcef3d7-79f3-4d6b-85db-e67561f65dc1