Mittwoch, 26. Juni 2024

Petersburger Hängung

Per Zu­fall oder mit Ab­sicht: Sie le­sen ge­ra­de in ei­nem di­gi­ta­len Ta­ge­buch aus der Ar­beits­welt, ge­nau­er: der Dol­met­scher und Über­set­zer. (Der Auf­find­bar­keit im Netz we­gen nut­ze ich heu­te den männ­li­chen Ober­be­griff, ob­wohl in un­se­rem Be­ruf Män­ner die Aus­nah­me sind.) Mein Be­ruf be­deu­tet vor al­lem eins: life­long lear­ning.

"Ihr seid wie Wein", hat­te unser Do­zent im­mer mal wie­der ge­sagt: "Mit dem Al­ter wer­det ihr im­mer bes­ser." Dann mach­te er ei­ne Pau­se und leg­te nach: "Des­halb le­gen wir hier so gro­ßen Wert dar­auf, dass der jun­ge Wein von ho­her Qua­li­tät ist."

Da­ran durf­ten wir dann selbst wei­ter­den­ken.

Bild an Bild, Hängweise in Sankt Petersburg
Ge­mäl­de von Edu­ard Hau (1860)
Das Schö­ne am Äl­ter­wer­den ist ne­ben der Rou­ti­ne der Zu­wachs an Wis­sen. Auch wenn wir uns im größ­ten Stress in der Ka­bi­ne die De­tails oft nicht mer­ken kön­nen, so bleibt durch die mehr­tä­gi­ge Be­schäf­ti­gung im Vor­aus und Wie­der­ho­lungs­ein­sät­ze dann doch ei­ni­ges hän­gen. 
Bu­li­mi­sches Pau­ken, rein­fres­sen, raus­kot­zen, reicht da meis­tens nicht; wir ler­nen prü­fungs­re­sis­ten­t, al­so un­ter Druck re­pro­du­zier­ba­re In­hal­te.

Wir Dol­met­scher:innen sind Lern­jun­kies. Et­was nicht zu wis­sen, ist An­sporn fürs Ler­nen. Man­ches fällt uns aber auch zu. Das Glück der Ge­burt hilft da wei­ter.

Beim Ein­satz neu­lich roll­te die Kol­le­gin mit den Au­gen, denn je­mand sprach plötz­lich von "Pe­ters­bur­ger Hän­gung". Es ging ei­gent­lich gar nicht um Kunst, son­dern um kli­ma­re­sis­ten­tes Bau­en und um ei­nen Tech­nik­raum, in dem al­les eng auf eng steht bzw. teil­wei­se hängt. Die er­fah­re­ne Dol­met­sche­rin wür­de so­was erst­mal über­sprin­gen, denn der Sinn war durch das pro­ji­zier­te Fo­to klar: kaum Luft da­zwi­schen, und al­les passt rein. Nun hat das Pu­bli­kum nach­ge­fragt und es war doch plötz­lich ein sel­ten ver­wen­de­ter Be­griff aus Kunst­ge­schich­te oder In­nen­ar­chi­tek­tur nö­tig.

Hier war ich im Team die Äl­te­re und hat­te da­mit schon zu tun. Ich habe also bei mei­nem Schalt­pult auf "On" ge­drückt und wei­ter­ge­macht. Der Be­griff be­zeich­net Kunst­wer­ke in ex­trem dich­ter Hän­gung, auf Fran­zö­sisch ac­cro­cha­ge pé­ters­bour­geois oder à la Saint-Péters­bourg oder style sa­lon. Wer Kunst liebt, ger­ne sam­melt und nicht aus­wäh­len mag, hängt die Wer­ke eng auf eng. (Oder, wer, wie einst der Adel, aus ei­nem Gel­tungs­drang her­aus han­delt.)

Der Ter­mi­nus geht auf die dich­te Hän­gung, ober-, über- und ne­ben­ein­an­der in der Eremitage in Sankt Pe­ters­burg zu­rück, sie­he oben. In der Dok­tor­ar­beit mei­nes Va­ters kam die als an­hal­ti­ni­sche Prin­zes­sin ge­bo­re­ne rus­si­sche Kai­se­rin Ka­tha­ri­na die Gro­ße vor, der Grün­de­rin die­ser Eremitage.

Die nächs­ten Zei­len sol­len kei­ne Ober­schlau­mei­e­rei sein, ich kann wirk­lich nichts da­für. Ich hab im Mu­se­um lau­fen ge­lernt, un­ter den Au­gen ei­nes kunst­his­to­ri­schen Se­mi­nars, und bin spä­ter in mei­nem Le­ben noch öf­ter Men­schen be­geg­net, die da­von be­rich­tet ha­ben (o-ber-pein-lich, sag ich da nur, o-ber-pein-lich). 

Auf je­den Fall ha­ben wir, als die El­tern noch stu­diert ha­ben, in ei­ner sehr klei­nen Hin­ter­haus­woh­nung am Hang unterhalb des Mar­bur­ger Schlos­ses ge­lebt und es gab we­nig Platz, da­für um­so mehr Bil­der. Sie ah­nen es, an den Wän­den hing al­les recht eng. Ir­gend­wann mein­te mal ein Be­suchs­gast: "Ihr habt aber vie­le Bil­der!" Da­rauf Fräu­lein Na­se­weis, al­so ich, in an­de­ren Wor­ten "noch ein Drei­kä­se­hoch" und ge­ra­de im­stan­de, in kor­rek­ten Sät­zen zu spre­chen: "Das ist die Pe­ters­bur­ger Hän­gung". 

Noch so 'ne Epi­so­de, die mir frü­her oft aufs Brot ge­schmiert wur­de, lan­ge zu mei­nem Un­mut. (Heu­te wür­de ich das ger­ne öf­ter hö­ren, aber die Ge­ne­ra­ti­on dünnt sich aus.) 

Und hier noch rasch ei­ne Pa­ral­le­le zur "Neu­köl­lner Mö­blie­rung": Al­les, was vier Bei­ne hat und sich nicht von selbst be­wegt, lan­det als Stuhl, Tisch, Bu­ffet oder Bü­cher­re­gal in den Knei­pen und Ca­fés des Ber­li­ner Be­zirks Neu­köl­ln, einst ein Ar­bei­ter­be­zirk, dann ein Ar­beits­lo­sen­be­zirk mit Bes­ser­ver­die­ner­in­seln, jetzt ein Be­zirk mit Tur­bo­gen­tri­fi­zie­rung und hier und da so­gar Lu­xus­woh­nun­gen, die 30 Eu­ro den Qua­drat­me­ter kos­ten.

Die­ses Ameu­ble­mang darf auch als Pro­test auf den Mi­ni­ma­lis­mus des be­gin­nen­den 21. Jahr­hun­derts und die aus dem Man­gel ent­stan­de­ne Schlich­t­heit der 2. Hälf­te des letz­ten Jahr­hun­derts ge­le­sen wer­den, die in­dus­tri­el­le, nüch­ter­ne, funk­tio­na­le Fer­ti­gung und Aus­stat­tung von Ge­bäu­den und In­nen­räu­men, die oft den Charme ei­nes Bahn­hofs­war­te­saals ver­strö­men. 

"Von was bit­te­schön?", hö­re ich ein Echo hä­misch la­chen. Schon klar, in der To­tal­kom­mer­zia­li­sie­rung al­ler Le­bens­be­rei­che, auch Neo­li­be­ra­lis­mus ge­nannt, gibt es kei­ne Bahn­hofs­war­te­sä­le mehr!

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Il­lus­tra­tion: Die er­wähn­te Ere­mi­tage / Wi­ki­me­dia

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