ber Jahrhunderte ist meine "Vaterstadt" die einzige Gemeinde Deutschlands gewesen, in der es zwei Apotheken am Marktplatz gegeben hat. Die am Ort regierende Fürstenfamilie hatte sich gespalten und jedes "Haus" herrschte über eine Hälfte des großen Platzes, den noch immer das alte Kopfsteinpflaster ziert. Heute gibt es in der westsächsischen Gemeinde leider keine einzige Apotheke mehr direkt am Markt.
In einem der beiden Gebäude, dem der Mohrenapotheke, hatten zweieinhalb Jahre lang junge Leute das Einkaufsangebot zu den 'nachwendischen' Supermärkten vor den Toren der Stadt mit einem Bio- und Unverpacktladen zu ergänzen versucht. (Das Reformhaus am Markt war längst zu.)
So wurde aus der "Mohrenapotheke" das "Möhrchen". Seit etwas mehr als einem Jahr ist der Laden bedauerlicherweise wieder geschlossen. Die Idee ist gut, war aber wohl zu früh für die Kleinstadt, die heute weniger als 14.000 Menschen zählt.
Firmenaufgabe scheint hier ein Trend zu sein. Auch der asiatische Garküche "Glück" in unmittelbarer Marktnähe war kein unternehmerisches Glück beschieden, die Buchläden sind schon länger weg, Modeläden, das Fotofachgeschäft und die Galeristin gaben auf.
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Das Geschäft vis-à-vis wird wohl bleiben |
"Zu vermieten"-Schilder sind omnipräsent im Straßenbild. Dem Leerstand bei Wohn- und Geschäftshäusern folgt nicht selten der Abriss. Autos parken auf großen Freiflächen mitten in der historischen Altstadt.
Am Stadtrand, wo lange Textilien gewoben, veredelt und verarbeitet wurden, sind heute nicht selten Grünflächen. Mit EU-Hilfen wurden Fabriken und Werkhallen unter der Maßgabe dem Boden gleichgemacht, dass die Fläche 20 Jahre lang nicht bebaut wird. (Information mündlich erhalten, nicht überprüft.)
Als Hauptindustrie der Stadt müssen wir heute die Altenpflege betrachten. Die einstmals übliche "dicke Luft", Folge der chemischen Industrie, ist einer Luftqualität gewichen, die eines Luftkurorts würdig wäre.
Es ist eine sterbende Stadt.
Ich muss oft an das italienische Bergdorf in Kalabrien denken, das in den 2010-er Jahren erst einen enormen Aufschwung erfuhr und als Musterbeispiel für Integration gegolten hat; endlich gab es wieder einen Schuster, die Bäckerei wurde von der nächsten Generation übernommen, die Dorfschule erneut aufgemacht, und das alles dank des Zuzugs von geflüchteten Menschen und eines engagierten Bürgermeisters, ökonomisch zwar zunächst nur möglich dank Transferzahlungen aus Rom, aber auf dem guten Weg.
Das ging gut, bis die populistische "Fünf-Sterne-Bewegung" 2018 das Rad wieder zurückgedreht hat.
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Nicht alle Altbauten sind verloren |
Sehr viele Menschen in den fünf "neuen" Bundesländern pflegen aufgrund fehlender positiver Erfahrung mit unserer Demokratie, der "besten Staatsform aller schlechten", leider menschenfeindliche und antidemokratische Überzeugungen, nicht zuletzt, weil in manchen Familien extremistisches Gedankengut seit der Nazizeit an die Kinder weitervererbt wird. (In der DDR galten Nazis als Tabu, es gab sie aber.)
Die Menschen dort, die bei den Wahlen 1990 für die D-Mark und volle Läden gestimmt hatten, ahnten nicht, was auf sie zukommen würde. Kapitalismus ist keine demokratische Veranstaltung, das war schon den "Klassikern" des politischen Unterrichts zu entnehmen, denen aus Oppositionsgedanken heraus oft nicht geglaubt wurde. Die nunmehr gesamtdeutsche Politik hat sich seit der Wende je nach Couleur mal mehr, mal weniger Mühe gemacht, die Verzerrungen auszugleichen. (Nein, grundsätzlich eher weniger. Von der "sozialen" Marktwirtschaft ist heute nicht mehr die Rede. Die DDR mit ihrem sozialen Anspruch wirkte vor dem Mauerfall im Westen indirekt als Korrektiv gegen die Auswüchse.)
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Der Altstadtkonditor der Ortschaft |
Ich kürze ab: Die Anzahl der Menschen hat sich in dieser Gemeinde seit Mauerfall etwa halbiert, zu Pflegende inbegriffen. Neue Perspektiven sind schwer erkennbar. Sie liegen vielleicht, so zynisch das klingen mag, in den immer teurer werdenden Groß- und Mittelstädten, in "Home Office", Glasfaserkabel und vielleicht auch in neuen, grüneren Industrien. Die 20 Jahre "Ruhezeit" etlicher Industriebrachen sind abgelaufen, die Immobilien- und Mietpreise günstig. Die "Blauwähler" im Osten schrecken indes ab. Bei den Europawahlen 2024 lässt sich an den Farben der Wahlsieger der deutsch-deutsche Grenzverlauf klar erkennen. Verfahrene Kiste.
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Fotos: C.E.
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