Sonntag, 16. Juni 2024

Abbau Ost

Bienvenue auf den Sei­ten ei­ner Sprach­ar­bei­te­rin. Wie Über­set­ze­rin­nen, Über­set­zer, Dol­met­sche­rin­nen und Dol­met­scher ar­bei­ten, kön­nen Sie hier mit­le­sen. Mei­ne Ar­beits­spra­chen sind (ne­ben Deutsch) Fran­zö­sisch und Eng­lisch (nur als Aus­gangs­spra­che). Heu­te: Sonn­tags­bilder! Am Wo­chen­en­de bin ich un­ter­wegs.

Grabfigur im Schaufenster, in dem sich ein Parkplatz inmitten von Häusern spiegelt
Schaufenster in der Innenstadt
Über Jahr­hun­der­te ist mei­ne "Va­ter­stadt" die ein­zi­ge Ge­mein­de Deutsch­lands gewesen, in der es zwei Apo­the­ken am Markt­platz ge­ge­ben hat. Die am Ort re­gie­ren­de Fürs­ten­fa­mi­lie hat­te sich ge­spal­ten und je­des "Haus" herrsch­te über ei­ne Hälf­te des gro­ßen Plat­zes, den noch im­mer das al­te Kopf­stein­pflas­ter ziert. Heu­te gibt es in der west­säch­si­schen Ge­mein­de lei­der kei­ne ein­zi­ge Apo­the­ke mehr di­rekt am Markt.
In ei­nem der bei­den Ge­bäu­de, dem der Moh­ren­apo­the­ke, hat­ten zwei­ein­halb Jah­re lang jun­ge Leu­te das Ein­kaufs­an­ge­bot zu den 'nach­wen­di­schen' Su­per­märk­ten vor den To­ren der Stadt mit ei­nem Bio- und Un­ver­packt­la­den zu er­gän­zen ver­sucht. (Das Re­form­haus am Markt war längst zu.) 

So wur­de aus der "Moh­ren­apo­the­ke" das "Möhr­chen".  Seit et­was mehr als ei­nem Jahr ist der La­den be­dau­er­li­cher­wei­se wie­der ge­schlos­sen. Die Idee ist gut, war aber wohl zu früh für die Klein­stadt, die heu­te we­ni­ger als 14.000 Men­schen zählt.

Fir­men­auf­ga­be scheint hier ein Trend zu sein. Auch der asia­ti­sche Gar­kü­che "Glück" in un­mit­tel­ba­rer Markt­nä­he war kein un­ter­neh­me­ri­sches Glück be­schie­den, die Buch­lä­den sind schon län­ger weg, Mo­de­lä­den, das Fo­to­fach­ge­schäft und die Ga­le­ris­tin ga­ben auf.

Danksagung im Schaufenster eines Modegeschäfts, in dem sich das Schild vom Bestatter gegenüber spiegel
Das Geschäft vis-à-vis wird wohl bleiben
"Zu ver­mie­ten"-Schil­der sind om­ni­prä­sent im Stra­ßen­bild. Dem Leer­stand bei Wohn- und Ge­schäfts­häu­sern folgt nicht sel­ten der Ab­riss. Autos par­ken auf gro­ßen Frei­flä­chen mit­ten in der his­to­ri­schen Alt­stadt. Am Stad­trand, wo lange Tex­ti­li­en ge­wo­ben, ver­e­delt und ver­ar­bei­tet wur­den, sind heu­te nicht sel­ten Grün­flä­chen. Mit EU-Hil­fen wur­den Fa­bri­ken und Werk­hal­len un­ter der Maß­ga­be dem Bo­den gleich­ge­macht, dass die Flä­che 20 Jah­re lang nicht be­baut wird. (In­for­ma­ti­on münd­lich er­hal­ten, nicht über­prüft.)
Als Haupt­in­dus­trie der Stadt müs­sen wir heu­te die Al­ten­pfle­ge be­trach­ten. Die ein­st­mals üb­li­che "di­cke Luft", Fol­ge der che­mi­schen In­dus­trie, ist ei­ner Luft­qua­li­tät ge­wi­chen, die ei­nes Luft­kur­orts wür­dig wä­re.

Es ist eine ster­ben­de Stadt.

Ich muss oft an das ita­lie­ni­sche Berg­dorf in Ka­la­bri­en den­ken, das in den 2010-er Jah­ren erst ei­nen en­or­men Auf­schwung er­fuhr und als Mus­ter­bei­spiel für In­te­gra­ti­on ge­gol­ten hat; end­lich gab es wie­der ei­nen Schus­ter, die Bä­cke­rei wur­de von der näch­s­ten Ge­ne­ra­ti­on über­nom­men, die Dorf­schu­le er­neut auf­ge­macht, und das al­les dank des Zu­zugs von ge­flü­ch­te­ten Men­schen und ei­nes en­ga­gier­ten Bür­ger­meis­ters, öko­no­misch zwar zu­nächst nur mög­lich dank Trans­fer­zah­lun­gen aus Rom, aber auf dem gu­ten Weg.

Das ging gut, bis die po­pu­lis­ti­sche "Fünf-Ster­ne-Be­we­gung" 2018 das Rad wie­der zu­rück­ge­dreht hat.

Kaputte Fenster und kaputter Putz
Nicht alle Altbauten sind verloren

Sehr vie­le Men­schen in den fünf "neu­en" Bun­des­län­dern pfle­gen auf­grund fehl­en­der po­si­ti­ver Er­fah­rung mit un­se­rer De­mo­kra­tie, der "bes­ten Staats­form al­ler schlech­ten", lei­der men­schen­feind­li­che und an­ti­de­mo­kra­ti­sche Über­zeu­gun­gen, nicht zu­letzt, weil in man­chen Fa­mi­lien ex­tre­mis­ti­sches Ge­dan­ken­gut seit der Na­zi­zeit an die Kin­der wei­ter­ver­erbt wird. (In der DDR gal­ten Na­zis als Ta­bu, es gab sie aber.)

Die Men­schen dort, die bei den Wah­len 1990 für die D-Mark und vol­le Lä­den ge­stimmt hat­ten, ahn­ten nicht, was auf sie zu­kom­men wür­de. Ka­pi­ta­lis­mus ist kei­ne de­mo­kra­tische Ver­an­stal­tung, das war schon den "Klas­si­kern" des po­li­ti­schen Un­ter­richts zu ent­neh­men, de­nen aus Op­po­si­ti­ons­ge­dan­ken her­aus oft nicht ge­glaubt wur­de. Die nun­mehr ge­samt­deut­sche Po­li­tik hat sich seit der Wen­de je nach Cou­leur mal mehr, mal we­ni­ger Mü­he ge­macht, die Ver­zer­run­gen aus­zu­glei­chen. (Nein, grund­sätz­lich eher we­ni­ger. Von der "so­zia­len" Markt­wirt­schaft ist heu­te nicht mehr die Re­de. Die DDR mit ih­rem so­zia­len An­spruch wirk­te vor dem Mau­er­fall im Wes­ten in­di­rekt als Kor­rek­tiv ge­gen die Aus­wüch­se.)

Geöffnet samstags, 8.00 bis 15.00 Uhr
Der Altstadtkonditor der Ortschaft 
Ich kür­ze ab: Die An­zahl der Men­schen hat sich in die­ser Ge­mein­de seit Mau­er­fall et­wa hal­biert, zu Pfle­gen­de in­be­grif­fen. Neue Per­spek­ti­ven sind schwer er­kenn­bar. Sie lie­gen viel­leicht, so zy­nisch das klin­gen mag, in den im­mer teu­rer wer­den­den Groß- und Mit­tel­städ­ten, in "Home Of­fice", Glas­fa­ser­ka­bel und viel­leicht auch in neu­en, grü­ne­ren In­dus­tri­en. Die 20 Jah­re "Ru­he­zeit" et­li­cher In­dus­trie­bra­chen sind ab­ge­lau­fen, die Im­mo­bi­li­en- und Miet­prei­se güns­tig. Die "Blau­wäh­ler" im Os­ten schrecken in­des ab. Bei den Eu­ro­pa­wah­len 2024 lässt sich an den Far­ben der Wahl­sie­ger der deutsch-deut­sche Grenz­ver­lauf klar er­ken­nen. Ver­fah­re­ne Kis­te.

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Fotos: C.E.

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