Hallo auf den Seiten eines Blogs aus der Welt der Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Was und wie wir auf Konferenzen und im eigenen Büro beim Übersetzen erleben und wie wir arbeiten ist im 18. Jahr Gegenstand von "Dolmetscher Berlin". Meinen Beruf übe ich mit viel Leidenschaft aus. Wirklich leidvoll ist nur manche kulturelle Entwicklung.
Dieser Eintrag hier ist lange überfällig. Wir müssen über Salah reden. Salah heißt vielleicht nicht Salah, aber es gibt ihn. Er ist heute Schulbezirksleiter und Ko-Direktor eines französischen Gymnasiums in Nordafrika. Neulich schickt er schöne Fotos die zeigen, wie ihm die Republik Frankreich einen Verdienstorden verliehen hat. Herzlichen Glückwunsch!
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Die Autorin dieser Zeiten in der Zeit ihres Studiums in Paris |
Ich habe ihn im Studium kennengelernt, damals, in Paris, als ich als Westdeutsche mit ostdeutschen Wurzeln in Paris studiert habe. Springen wir gemeinsam zurück in diese Zeit.
Salah ist dunkelhaarig, mittelgroß, hat viel Humor und gewitzte Augen. Seine Mutter war Köchin, sein Vater Busfahrer. Er war gut in der Schule, hat dann Französisch und Latein studiert, kam mit Stipendium nach Frankreich, wo er in den Semesterferien schon regelmäßig in Hotels an der Nachtrezeption gearbeitet hatte.
Als sein Stipendium in Frankreich ausgelaufen ist, blieb er, kehrte nachts ins Hotel zurück und studierte tags mit uns weiter. Das war insofern bedeutsam, als dass wir anderen ihn ab und zu nach dem Kino im Hotel besucht haben und ihm die Filme erzählen mussten. Wir hatten immer etwas zum Trinken dabei, Salah brachte Gläser und bevor es richtig spät wurde, waren wir wieder weg. Salah bekam noch anderen Kinofilmerzählbesuch und war immer bestens informiert. Ob er es geschafft hatte, die Filme in den Nachmittagsvorstellungen noch ansehen zu gehen, habe ich mich nie zu fragen getraut.
Dann ist da noch Gunnar. Gunnar heißt vielleicht gar nicht Gunnar, aber es gibt ihn. Er wurde in einem skandinavischen Land geboren, ist groß, blond mit stahlblauen Augen und hat damals ständig Grundsatzfragen zum Leben und zur Liebe gestellt. Gunnar ging wohl nur mir zuliebe ins Kino. Salah und Gunnar sprachen sehr freundlich miteinander. Dass sie sich beide um mich als Frau bemühten, habe ich erst später gemerkt. In meinen ersten Studienjahren war ich noch nicht so weit.
Gunnar hatte im Erststudium Naturwissenschaften studiert und wurde Fachübersetzer für naturwissenschaftliche Themen, irgendwann bekam er einen Ruf an die Uni. Auch er hat einen sozialen Aufstieg hingelegt: seine Mutter war alleinerziehende Grundschullehrerin, der Vater früh verstorben. Gunnar blieb auch länger in Frankreich, promovierte, war als Stadtführer tätig. Über ihn bekam ich meine ersten Jobs als Reiseleiterin.
Für beide, Salah wie Gunnar, waren die Parisjahre prägend (auch wenn sie ihr Leben ohne eine Deutsche aus Frankreich an der Seite fortführen mussten). Beide kennen die Sprache bis in ihre Verästelung hinein, kennen kulturelle Unterschiede, übertragen Inhalte und Verhaltensweisen, sind Kulturmittler. Beide haben viel Kompetenz mit in ihr Land zurückgebracht und sind Mediatoren geworden. Das gilt ja für uns drei.
Während ich nicht Journalistin blieb, sondern Dolmetscherin wurde, geben Salah und Gunnar seit Jahren ihr Wissen weiter, bilden aus und fort — und sorgen dafür, dass das Wissen in der MENA-Region und in Skandinavien weitergereicht werden kann, zum Beispiel an Menschen, die im Bereich der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit tätig sind, legen Grundlagen für neue Salahs und Gunnars dieser Welt, auf dass diese künftig auch ihre zwei, drei und mehr Jahre in Frankreich (und andere anderswo) verbringen können.
Aber stimmt die letzte Aussage? Gibt es genügend Stipendien? Dürfen Kinder aus der Migration länger bleiben, wenn das Stipendium ausgelaufen ist und sie ihr bain culturel et linguistique, ihr Bad in der Kultur und Sprache des Gastlandes, noch verlängern müssen, um wirklich sehr gut werden zu können? Wann setzte diese Veränderung ein? War es schleichend oder gibt es Stichdaten?
Der Homo sapiens sapiens ist deshalb ein Wissender, weil er reist und lernt. Irgendwann hat die Festung Europas ihre Mauern hochgezogen und lässt nun kaum noch Salahs zu, vor allem jene nicht, die ohne Stipendium hier sind. Früher war das normal: zirkuläre Migration, Wanderungsbewegungen auf Dauer. Stattdessen Vorurteile und böse Worte. Für einen Teil dieser Menschen aus der Gegend wurde nach 2015 in Deutschland das böse "Nafri" erfunden, Nordafrikaner. Salah, Gunnar und ich haben uns Ende des 20. Jahrhunderts für drei bis sechs Jahre eine neue Heimat gesucht und sind dann, zum Nutzen des Gast- UND des Herkunftslandes, in die alte Heimat zurückgekehrt.
Die Gunnars von heute und morgen haben keine Probleme, solange es Stipendien für sie gibt. Aber durch unsere Abschottungspolitik nehmen wir den anderen, Menschen aus südlichen Herkunftsländern, viele Chancen. Und wir entziehen auch unseren eigenen Ländern damit viele Chancen und stellen sogar Probleme her, die es früher nicht gab. Menschen, die aus diesen Gegenden einmal hier sind, trauen sich oft gar nicht zurückzukehren, da ihnen im Falle eines Misserfolgs die Rückkehr verbaut ist. Und ja, es gibt auch heute noch eine Bildungsmobilität, das ist überwiegend jene, die ich früher als DAAD- und später als Erasmusstipendiaten getroffen habe, da war ich schon Dozentin an der Uni. Viele der Studierenden kamen mindestens aus der mittleren Mittelschicht und hätten die Stipendien gar nicht gebraucht. Die Auswahlkommissionen erkannten nur Leute ihres Schlags und ihrer Herkunft. (Sprichwörtlich war die DAAD-Stipendiatin, der die Eltern einen Kleinwagen vor die Tür stellten: "Da ja der Staat dieses Jahr für dich zahlt, wollten wir mit dem gesparten Geld dir eine kleine Freude machen.")
Ohne Stipendium müssen Eltern aus Nicht-EU-Staaten heute eine hohe Summe auf einem Konto hinterlegen, von dem sich hierzulande bequem ein Jahr oder länger leben lässt. Das kann nicht jede(r). Die Salahs und Gunnars, die heute hier studieren, stammen aus anderen Verhältnissen als "meine" Herren. Sie werden künftig ihren Studierenden implizit andere Dinge mitgeben, als es frühere Kinder aus einfacheren Verhältnissen können.
Sozial gesehen, aber auch was den Austausch des Wissens und die Grundlagen für weitere enge Zusammenarbeit angeht, sind wir zurückgefallen.
Fußnote
Das Wort "Stadtführer" ist ein westdeutscher Begriff, auf Ostdeutsch hieß das "Stadtbilderklärer". Und diese Zeilen hat ein "Akademikerkind" verfasst, der in die Wiege gelegt wurde, Dinge unter sozialen und soziologischen, historischen und kulturellen Aspekten zu hinterfragen.
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