Bonjour, hier bloggt eine Linguistin. Ich arbeite mit Deutsch (Muttersprache), Französisch und Englisch. In die Sprache Shakespeares übersetzt die Bürokollegen, also geschriebene Texte, denn Übersetzen ist Handwerk, Dolmetschen ist Mundwerk. Doch es gibt Überschneidungen.
Rednerin am Pult (KI-Bild "im Stil von Matisse") |
Sie beschreibt eine komplexe Lage als echten Kreuzweg. Nur noch wenige Tage trennen uns von Ostern. Die berichtende Dolmetscherin ist, was Religionsdinge angeht, im Allgemeinen nur "in der Schnellbleiche" darüber instruiert, also rasch, in groben Zügen, unvollständig. Aber natürlich vermag sie den Kreuzweg als Begriff der Passion Jesu einzuordnen.
Auf Französisch ist der Begriff für "Kreuzweg" häufig auch in nichtreligiösen Kontexten zu hören, das Wort le calvaire zumindest wird oft im Sinne von "lange Durststrecke", "Leidensweg", "entbehrungsreiche Zeit" oder "schwere Prüfung" verwendet. Dann gibt es noch le chemin de croix, die wörtliche Entsprechung des deutschen Worts 'Kreuzweg', aber auch la corvée.
Fachleute kennen le calvaire auch auf Deutsch, den "Kalvarienberg", ein Wort, das auf Deutsch ausschließlich im religiösen Kontext vorkommt.
Wenn gedolmetscht und übersetzt werden muss, ist es gut, dass wir Menschen (anders als Maschinen) Vorwissen haben, über Assoziationstalent verfügen, Zusammenhänge erahnen und bestenfalls einschätzen können, das Wissen um Mehrfachbedeutungen und auch um potenzielle Fehler haben und (beim Dolmetschen) im Zweifelsfall ein Synonym wählen und dann, wenn die Lage klar ist, den eindeutigen Begriff in einen Nebensatz mit einflechten, also hinterherschieben.
Hier sind Dolmetschen und Übersetzen ähnlicher, als manche annehmen. Bei der schriftlichen Übertragung fordert manchmal die Logik der Sprache oder einer Redewendung eine kleine Verschiebung; in der Summe aber müssen sich Vorlage und Ergebnis entsprechen, die Waagschalen ausgeglichen sein, und zwar bei beiden Aufgaben.
Die KI hätte vermutlich schnell Nägel mit Köpfen gemacht. Eine Person ohne den nötigen Kontext in der Karwoche möglicherweise auch. Zum Glück konnte ich in der Vorbereitung einige Aufsätze der Vortragenden lesen, kannte also das gedankliche und argumentative Hinterland unserer Referentin — was mir half, die Klippe elegant zu umschiffen.
Ich blieb so etwas länger im Vagen bei meiner Verdolmetschung. Leider habe ich kein Tonaufnahmegerät dabeigehabt (was auch schwierig ist, denn zwei Tonspuren parallel zeichnet wohl kein Consumergerät auf), daher blieb undokumentiert, wie lange genau. Manche Ausgangsbegriffe haben eine gewisse Unscharfe, die das Ergebnis ihrer Vieldeutigkeit ist ... oder auch nicht, dann rührt das vielleicht sogar von semantischen Feldern her, die in Ausgangs- und Zielsprache nicht immer die gleichen Bereiche abdecken. Und nein, das Warten war kein calvaire/Leidensweg.
Da schillerte etwas in der Rede mit, was eventuell Ergebnis eines ebenso gekonnten wie kunstvollen Gebrauchs der deutschen Sprache war oder aber ein Fehler. Wie oben erwähnt, spricht die Rednerin Deutsch nicht als Muttersprache. Mit der Zeit wurde mir klar, dass hier "Weggabelung" gemeint war und nicht "Kreuzweg". Sprachlich ist das eine Herausforderung, denn an einer Weggabelung kreuzen sich die Wege, hier haben wir ja fast das Wort "Kreuzweg", und manchmal entscheiden sich so wichtige Dinge für den weiteren Lebensweg, wenn wir falsch abbiegen.
Sprache lebt von Nuancen, Hintergrundwissen und kulturellem Kontext, außerdem von Gefühlen, Kommunikationsstrategien und Zugehörigkeiten. Das alles vermag die kalte KI nicht, um das zu übertragen braucht es Menschen, die denken können.
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Illustration: Dall:e
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