Donnerstag, 7. März 2024

Zirkuläre Migration

Hal­lo auf den Sei­ten ei­nes Blogs aus der Wel­t der Dol­met­sche­rin­nen und Dol­met­scher. Was und wie wir auf Kon­fe­renzen und im ei­ge­nen Büro beim Über­set­zen er­le­ben und wie wir ar­bei­ten ist im 18. Jahr Ge­gen­stand von "Dol­met­scher Ber­lin". Mei­nen Be­ruf übe ich mit viel Lei­den­schaft aus. Wirk­lich leid­voll ist nur man­che kul­tu­rel­le Ent­wick­lung.

Dieser Ein­trag hier ist lange über­fäl­lig. Wir müssen über Sa­lah re­den. Sa­lah heißt viel­leicht nicht Sa­lah, aber es gibt ihn. Er ist heute Schul­be­zirks­lei­ter und Ko-Di­rek­tor ei­nes fran­zö­si­schen Gym­na­siums in Nord­afri­ka. Neu­lich schickt er schöne Fotos die zei­gen, wie ihm die Re­pu­blik Frank­reich ei­nen Ver­dienst­or­den ver­lie­hen hat. Herz­li­chen Glück­wunsch!

Portraits der Autorin (Automatenbilder, s/w)
Die Au­to­rin dieser Zeiten in der Zeit ihres Studiums in Paris
Ich ha­be ihn im Stu­di­um ken­nen­ge­lernt, da­mals, in Pa­ris, als ich als West­deut­sche mit ost­deut­schen Wur­zeln in Pa­ris stu­diert ha­be. Sprin­gen wir ge­mein­sam zu­rück in diese Zeit.

Sa­lah ist dun­kel­haarig, mit­tel­groß, hat viel Hu­mor und ge­witzte Au­gen. Sei­ne Mut­ter war Kö­chin, sein Va­ter Bus­fah­rer. Er war gut in der Schu­le, hat dann Fran­zö­sisch und La­tein stu­diert, kam mit Sti­pen­dium nach Frank­reich, wo er in den Se­mes­ter­fe­ri­en schon re­gel­mä­ßig in Ho­tels an der Nacht­re­zep­tion ge­ar­bei­tet hat­te.

Als sein Sti­pen­dium in Frank­reich aus­ge­lau­fen ist, blieb er, kehr­te nachts ins Ho­tel zu­rück und stu­dier­te tags mit uns wei­ter. Das war in­so­fern be­deut­sam, als dass wir an­de­ren ihn ab und zu nach dem Ki­no im Ho­tel be­sucht ha­ben und ihm die Filme er­zäh­len musst­en. Wir hat­ten im­mer et­was zum Trin­ken da­bei, Sa­lah brach­te Glä­ser und be­vor es rich­tig spät wur­de, wa­ren wir wie­der weg. Sa­lah bekam noch an­de­ren Ki­no­film­er­zähl­be­such und war im­mer bes­tens in­for­miert. Ob er es ge­schafft hat­te, die Filme in den Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen noch an­se­hen zu ge­hen, ha­be ich mich nie zu fra­gen ge­traut.

Dann ist da noch Gun­nar. Gun­nar heißt viel­leicht gar nicht Gunn­ar, aber es gibt ihn. Er wur­de in ei­nem skan­di­na­vi­schen Land ge­bo­ren, ist groß, blond mit stahl­blau­en Au­gen und hat da­mals stän­dig Grund­satz­fra­gen zum Le­ben und zur Lie­be ge­stellt. Gun­nar ging wohl nur mir zu­lie­be ins Ki­no. Sa­lah und Gun­nar spra­chen sehr freund­lich mit­ein­an­der. Dass sie sich bei­de um mich als Frau be­müht­en, ha­be ich erst spä­ter ge­merkt. In mei­nen ers­ten Stu­di­en­jah­ren war ich noch nicht so weit.

Gun­nar hat­te im Erst­stu­di­um Natur­wis­sen­schaf­ten stu­diert und wur­de Fach­über­set­zer für na­tur­wis­sen­schaft­li­che The­men, ir­gend­wann be­kam er ei­nen Ruf an die Uni. Auch er hat ei­nen so­zia­len Auf­stieg hin­ge­legt: sei­ne Mut­ter war al­lei­ner­zie­hen­de Grund­schul­leh­re­rin, der Va­ter früh ver­stor­ben. Gun­nar blieb auch län­ger in Frank­reich, pro­mo­vier­te, war als Stadt­füh­rer tä­tig. Über ihn be­kam ich mei­ne ers­ten Jobs als Rei­se­lei­te­rin. 

Für bei­de, Sa­lah wie Gun­nar, wa­ren die Pa­ris­jah­re prä­gend (auch wenn sie ihr Le­ben oh­ne ei­ne Deut­sche aus Frank­reich an der Sei­te fort­füh­ren muss­ten). Bei­de ken­nen die Spra­che bis in ih­re Ver­äs­te­lung hin­ein, ken­nen kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de, über­tra­gen In­hal­te und Ver­­hal­tens­wei­sen, sind Kul­tur­mitt­ler. Bei­de ha­ben viel Kom­pe­tenz mit in ihr Land zu­rück­ge­bracht und sind Me­dia­to­ren ge­wor­den. Das gilt ja für uns drei.

Wäh­rend ich nicht Jour­na­lis­tin blieb, son­dern Dol­met­sche­rin wur­de, ge­ben Sa­lah und Gun­nar seit Jah­ren ihr Wis­sen wei­ter, bil­den aus und fort — und sor­gen da­für, dass das Wis­sen in der ME­NA-Re­gi­on und in Skan­di­na­vi­en wei­ter­ge­reicht wer­den kann, zum Bei­spiel an Men­schen, die im Be­reich der wirt­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Zu­sam­men­ar­beit tä­tig sind, le­gen Grund­la­gen für neue Sa­lahs und Gun­nars die­ser Welt, auf dass die­se künf­tig auch ih­re zwei, drei und mehr Jah­re in Frank­reich (und an­de­re an­ders­wo) ver­brin­gen kön­nen.

Aber stimmt die letz­te Aus­sage? Gibt es ge­nü­gend Sti­pen­di­en? Dür­fen Kin­der aus der Mi­gra­ti­on län­ger blei­ben, wenn das Sti­pen­dium aus­ge­lau­fen ist und sie ihr bain cul­tu­rel et lin­guis­tique, ihr Bad in der Kul­tur und Spra­che des Gast­lan­des, noch ver­län­gern müs­sen, um wirk­lich sehr gut wer­den zu kön­nen? Wann setz­te die­se Ver­än­de­rung ein? War es schlei­chend oder gibt es Stich­da­ten?

Der Ho­mo sa­pi­ens sa­pi­ens ist des­halb ein Wis­sen­der, weil er reist und lernt. Ir­gend­wann hat die Fes­tung Eu­ro­pas ih­re Mau­ern hoch­ge­zo­gen und lässt nun kaum noch Sa­lahs zu, vor al­lem je­ne nicht, die oh­ne Sti­pen­dium hier sind. Frü­her war das nor­mal: zir­ku­lä­re Mi­gra­ti­on, Wan­de­rungs­be­we­gun­gen auf Dau­er. Statt­des­sen Vor­ur­tei­le und böse Wor­te. Für ei­nen Teil die­ser Men­schen aus der Ge­gend wur­de nach 2015 in Deutsch­land das bö­se "Na­fri" er­fun­den, Nord­afri­ka­ner. Sa­lah, Gun­nar und ich ha­ben uns En­de des 20. Jahr­hun­derts für drei bis sechs Jahre ei­ne neue Hei­mat ge­sucht und sind dann, zum Nut­zen des Gast- UND des Her­kunfts­lan­des, in die al­te Hei­mat zu­rück­ge­kehrt.

Die Gun­nars von heu­te und mor­gen ha­ben kei­ne Prob­le­me, so­lan­ge es Sti­pen­dien für sie gibt. Aber durch un­se­re Ab­schot­tungs­po­li­tik neh­men wir den an­­de­ren, Men­schen aus süd­li­chen Her­kunfts­län­dern, vie­le Chan­cen. Und wir ent­zie­hen auch un­se­ren ei­ge­nen Län­dern da­mit vie­le Chan­cen und stel­len so­gar Pro­ble­me her, die es frü­her nicht gab. Men­schen, die aus die­sen Ge­gen­den ein­mal hier sind, trau­en sich oft gar nicht zu­rück­zu­keh­ren, da ih­nen im Fal­le ei­nes Miss­er­folgs die Rück­kehr ver­baut ist. Und ja, es gibt auch heu­te noch ei­ne Bil­­dungs­mo­bi­­li­­tät, das ist über­wie­gend je­ne, die ich frü­her als DAAD- und spä­ter als Eras­mus­sti­pen­d­ia­ten ge­trof­fen ha­be, da war ich schon Do­zen­tin an der Uni. Vie­le der Stu­die­ren­den ka­men min­des­tens aus der mitt­le­ren Mit­tel­schicht und hät­ten die Sti­pen­di­en gar nicht ge­braucht. Die Aus­wahl­kom­mis­sio­nen er­kann­ten nur Leu­te ih­res Schlags und ih­rer Her­kunft. (Sprich­wört­lich war die DAAD-Sti­pen­dia­tin, der die El­tern ei­nen Klein­wa­gen vor die Tür stell­ten: "Da ja der Staat die­ses Jahr für dich zahlt, woll­ten wir mit dem ge­spart­en Geld dir ei­ne klei­ne Freu­de ma­chen.")

Ohne Sti­pen­dium müs­sen El­tern aus Nicht-EU-Staa­ten heu­te ei­ne hohe Sum­me auf ei­nem Kon­to hin­ter­le­gen, von dem sich hier­zu­lan­de be­quem ein Jahr oder län­ger le­ben lässt. Das kann nicht jede(r). Die Sa­lahs und Gun­nars, die heu­te hier stu­die­ren, stam­men aus an­de­ren Ver­hält­nis­sen als "mei­ne" Her­ren. Sie wer­den künf­tig ih­ren Stu­die­ren­den im­pli­zit an­de­re Din­ge mit­ge­ben, als es frü­he­re Kin­der aus ein­fa­che­ren Ver­hält­nis­sen kön­nen. 

So­zi­al ge­se­hen, aber auch was den Aus­tausch des Wis­sens und die Grund­la­gen für wei­te­re en­ge Zu­sam­men­ar­beit an­geht, sind wir zu­rück­ge­fal­len.

 
Fuß­no­te
Das Wort "Stadt­füh­rer" ist ein west­deut­scher Be­griff, auf Ost­deut­sch hieß das "Stadt­bil­der­klä­rer". Und die­se Zei­len hat ein "Aka­de­mi­ker­kind" ver­fasst, der in die Wie­ge ge­legt wur­de, Din­ge un­ter so­zia­len und so­zio­lo­gi­schen, his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len As­pek­ten zu hin­ter­fra­gen.

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