So auch gestern Mittag, als wir ein Interview einrichten. Ich sitze auf dem Platz des Arztes und halte meine Haut hin, während der Kameramann das Licht setzt. Ich versuche, an gar nichts zu denken. Weil das nicht klappt, konzentriere ich mich auf die Fragen der Regisseurin und die Fachbegriffe.
An diesem Montag haben wir dem Tod in die Augen geschaut. Für Arte drehen wir über das Botulinum-Toxin, ein Bakteriengift, das Muskeln entkrampft und zur Behandlung von Schielfehlern, Muskelspastiken oder in der Schönheitsmedizin verwendet wird. Ärzte, die sich auf derlei Anwendungen spezialisieren möchten, können in Paris eine besondere Ausbildung absolvieren, die zum Teil in der Anatomie stattfindet. Damit die Mediziner nicht an lebenden Patienten ihre ersten Erfahrungen sammeln müssen, wird hier geübt, mit farbigen Lösungen gespritzt und anschließend seziert. Die Subjekte, an denen gearbeitet wird — so jedenfalls die Sprache der französischen Fachleute — sind allesamt Menschen, die zu Lebzeiten ihre sterblichen Überreste der Wissenschaft übereignet haben.
Die Subjekte also — bis auf einen waren sie allesamt sehr, sehr alt beim Eintritt des Todes — sehen anfangs aus wie Wachsköpfe oder wie Marat in seiner Badewanne, die Münder sind indes allesamt wie bei Edvard Munchs "Schrei" geöffnet. Das Ergebnis der Präparation, die oft zart verästelten Nerven- und Muskelstränge, sehen so aus wie im Anatomielehrbuch meines Großvaters.
Es ist die Etappe dazwischen, die mir Schwierigkeiten macht, wenn ich nicht hochkonzentriert dolmetsche und Zeit für eigene Gedanken habe. Denn wir dokumentieren diesen Tag, debattieren daneben immer wieder die Grenzen dessen, was in Bildform wiedergegeben werden kann und staunen über diese Welt, mit keiner vom Filmteam bislang in Berührung gekommen ist. Zugleich begleitet wohl alle von uns ein flaues Gefühl im Magen.
Am Mittag und am Abend drehen wir Interviews in der klassischen "sitzenden" Weise. Sie sind hochgradig informativ, das Filmteam ist super, auch die Ärzte um uns herum sprechen mich immer wieder an, wollen wissen, wie es uns geht, fragen nach Details zur Filmarbeit, wundern sich, dass es so lange braucht, bis alles "im Kasten" ist.
Im Vorfeld hatten mich Freunde vor derbem Humor gewarnt, mit denen etliche Weißkittel in dieser Situation kontern. Aber alles ist ruhig, sanft, konzentriert — und sehr respektvoll. Auch unser Humor fiel sanft aus. Mit den Ärzten hier verbindet uns, dass es um eins geht, um "sujets" (siehe oben, aber auch le sujet: "das Thema"), die Hauptarbeit findet am "Schneidetisch" statt.
Lichtdouble, bitte Platz nehmen!
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P.S.: Nächste Woche besorge ich mir einen Organspenderausweis.
Für die Entscheidung, ob ich einen Schritt weitergehen möchte, die
Freigabe für "Wissenschaft", brauche ich noch Zeit
fürs Vergessen. Aber hochgradig wichtig ist das auf jeden Fall!
2 Kommentare:
Ein Auftrag der besonderen Art... Interessant und interessant geschrieben.
Vielen Dank, Nadine Hak!
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