Montag, 28. Juni 2010

Le hinterland

Als ich Schülerin war, fand ich übersetzen super doof. Ich empfand das alles nicht vergleichbar und im Grunde eine Zumutung, ohne ausreichendes Wissen schon in jungen Jahren Inhalte übertragen zu müssen. Denn mir war früh aufgefallen, dass la baguette (das berühmte Stangenweißbrot) schon in Frankreich selten gleichbedeutend ist mit le pain (wie eine andere Brotform genannt wurde), und dass dieses schon gar nicht gleichbedeutend sein konnte mit der kulinarischen Wirklichkeit in Deutschland, wo die Auswahl der Brotsorten von Anisbrot über Pumpernickel bis hin zu Zwiebelbrot bis heute riesig ist.

Zeitgleich wurde ich von allen copines ständig in den Pausen beansprucht, um in Sachen Schüleraustausch zu übersetzen (Briefe im Vorfeld!) oder zu dolmetschen (vor Ort!) Es gab in meinem Leben also schon früh eine Diskrepanz zwischen Theorie bzw. eigenem Beobachten einerseits und Praxis bzw. der kommunikativen Notwendigkeiten andererseits.

Heute, da ich les hinterlands der jeweiligen sprachlichen Begriffe halbwegs überblicke, habe ich Spaß daran, mit den Zwischenräumen zu spielen - und Redewendungen zu prägen, die eine sich verändernde Realität wiedergeben. Erklärung: Schule ging in Frankreich immer von morgens bis abends, daher ist das deutsche Wort der Ganztagsschule auf den ersten Blick unübersetzbar. Vier Silben für eine Lebensform, die für viele Schüler auch hierzulande zunehmend Wirklichkeit wird - das klappt nur, wenn in dem Kontext erzählt wird, dass die Schule in Deutschland traditionell bis zum Mittagessen ging - die Mahlzeit natürlich ausgeschlossen. Ich bringe also die journée d'école courte ein, den kurzen Schultag, wobei la journée das französische Wort für "der Tag" ist, das auf die Dauer abzielt. Und im Gegensatz dazu komme ich jetzt zur journée d'école longue, zum langen Schultag, fünf Silben auf Französisch für Ganztagsschule, das, wir zählen es nach, mit nur vier Silben auskommt.
Nun tendieren alle Sprachen immer zur kürzeren Variante eines Ausdrucks, das wissen nicht nur Leute, die als Untertitler mit Anschlägen am unteren Bildrand von Filmen knausern müssen. Mein Lieblingsbeispiel ist hier, dass in fast allen Sprachen die Kurformel der Affimation, der Bestätigung, lediglich eine Silbe hat (über "igen" [igänn] auf Ungarisch wundere ich mich, seit ich zwölf bin - gibt's noch ein Beispiel?)

Rücksprung ins sprachliche Hinterland. Als ich noch zur Schule ging, gab es in Deutschland keine cantines scolaires, keine Schulkantinen, zumindest nicht an den Schulen, die ich besuchte (und das waren doch einige). So war das Wort Schulkantine ein wörtlich übersetzter Begriff, der keine Anbindung in meiner deutschen Schulwirklichkeit hatte. Ich verwende ihn bis heute manchmal und übe inzwischen, ihn zu vermeiden, denn ein mir sehr gut bekannter kleiner Mann sieht mich dann immer strafend an und sagt: "Mensa heißt das!" Wie war das noch gleich mit der Neigung zum kurzen Wort?

Das mit den strafenden Blicken geht schon ein (Schul-)Jahr so. Ich fand diese Vorstellung am Anfang super komisch, sah vor meinem inneren Auge die ganzen Minis seiner Schulklasse auf den großen Stühlen unserer Unimensa rumhocken und mit den Beinchen baumeln ... Langsam gewöhne ich mich dran, das Wort Mensa bekommt ein neues Hinterland. Und dieses Wort heißt auf Französisch wirklich so, ohne jedes Übertragungsproblem.


______________________________
Foto: Die Minis von heute machen früh ihre
ersten Erfahrungen mit Computern - üben
in der ersten Klasse z.B. das Erkennen von
Buchstaben, Worten und Zahlen.

2 Kommentare:

Ines hat gesagt…

Affirmationen mit einer Silbe: Ausnahmen bestätigen vermutlich die Regel. ;-) Türkisch: evet, Arabisch: na'am sind mir bekannte Zweisilber. Eine lange Yes-Liste gibt es hier: http://users.elite.net/runner/jennifers/yes.htm

caro_berlin hat gesagt…

Hallo,
Danke für die Ergänzung und den Link. Wieder was hinzuglernt :-)
Caroline