Neulich habe ich wieder im Bundesrat gedolmetscht. Die Bänke der Bundesländer berührten mich jedes Mal. Ich kann mich noch gut an die Mauerzeit erinnern. Deutschland ist noch immer geteilt, heute auf andere Weise.
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| ... ist die Heimat meines Vaters |
Das passive Wahlrecht gehört dringend reformiert, eine Aufgabe, die die Ampel leider liegengelassen hat, überrollt von Hetze und interner Blokade.
In unserem Land werden grundsätzlich sehr viele Menschen sicherheitsgeprüft, wir Dolmetscherinnen auch. Wer in Kita oder Schule arbeitet, braucht ein sauberes Führungszeugnis, und zwar völlig zurecht. Also nochmal: Straftäter im Parlament?
Dazu kommt die Absurdität: Exakt jene, die Angst schüren, sind Teil der Unsicherheit mit ihren simplen Antworten. Es negiere die vielfache Spaltung der Gesellschaft keinesfalls. Ich erlebe, wie einer Ex-Kollegin in Düsseldorf von postmigrantischen Nachbarn das Leben im geerbten Haus zur Hölle gemacht wird, denn sie zählt in ihrem Wohnviertel inzwischen zur Minderheit. Sie hat Gewalterfahrung machen müssen, da reißt jede neue Andeutung die Wunden wieder auf. Die Polizei schaut weg und gießt damit Öl ins Feuer. Warum?
Ähnliches berichten Freunde aus dem Osten, diesmal aus der anderen Richtung. Sie alle wählen trotzdem nicht rechtsextrem. Diese Partei zeigt ständig auf andere, Migranten etwa, wohl auch, um vom eigenen Vorstrafenregister abzulenken. Zum Glück wird hier und da ermittelt und Immunität aufgehoben. Doch das ist zu wenig.
Wie also umgehen mit jenen, die sich schon bei „gefühlter Bedrohung“ radikalisieren? Im Osten, wo kaum Migranten leben, ist die Anfälligkeit für Hetze groß. Die neue deutsche Grenze ist nicht geografisch, sondern sozial. Auch anderswo greifen Rechtsextreme nach Enttäuschten und Ausgegrenzten. Manchmal reicht auch unter Gebildeten der Wille zur Macht bei einer Partei, die mehr Mandate hat als passable Mandatsträgerinnen. Doch diese Menschen werden benutzt, zu Stimmvieh gemacht, das bald ignoriert wird, denn die Partei hat alles andere vor, als die Interessen der Ärmsten zu verteidigen. Sie stehen eher für das, was wir in den USA sehen, das Durchdrücken der Interessen libertärer Superreichen, etwa um soziale Systeme abzuschaffen, Europa zu schwächen, autoritär durchzuregieren.
Wie können wir von der demokratischen Basis aus dagegenhalten? Welche Erfahrungen bräuchten diese Menschen? Können wir sie erreichen? Sie lesen die Programme nicht, folgen „Führern“, statt zu hinterfragen, nicht nur mangels Bildung. Wo bleibt die psychologische, soziologische, kommunikative Gegenstrategie?
Welche vertrauensbildenden Maßnahmen wären möglich? Wie schaffen wir es, da nicht nur die Stirn zu bieten, sondern eines Tages wieder die Hand reichen zu können? Und ab wann müssen wir uns eingestehen, dass bei einem Teil (derzeit) Hopfen und Malz verloren sind?
An erster Stelle muss konzertiertes Handeln stehen, keine weitere Spaltung. Wir brauchen heute kluge, zukunftsorientierte Politik, keine Rezepte von gestern für die Krisen von morgen, sozial orientiert, faktenbasiert und mit Blick aufs Überleben des Planeten.
Doch das wird schwer. Unser Denken ist alt: Wir reagieren wie Ur-Menschen, die gerade das Feuer entdeckt haben, die die gefühlt erst "seit eben" leichter verdauliche Dinge essen, Lebensmittel in Rauch haltbar machen, damit unseren Radius vergrößern, erste Pläne anstellen und Aufgaben delegieren können, der Beginn der Spezialisierungen. Wir erkennen bis heute als erstes Schemen wie ein wildes Tier im Gebüsch. Wir werten blitzschnell, Details sind Nebensache, und wir entscheiden impulsiv: Angriff oder Rückzug.
Das war einst eine überlebenswichtige Strategie. Wir haben sie bis heute in den Knochen. Doch jetzt sind Differenzierung, Kooperation und Reflexion nötig. Es wird schwer, mit dieser simplen Struktur auf die Herausforderungen einer Problemlage zu antworten, in die wir die eigene Spezies selbst gebracht haben: Raubbau an der Natur, Versklavung von Menschen, Kriege, Klimakatastrophe.
Im Thriller "Im Sturm der Macht" von Tuomas Oskari ist zu lesen: "Wenn sich Menschen als Teil einer homogenen Gruppe fühlen, erledigt ihr Gehirn den Rest. Menschen sind in der Lage, auf verblüffende Art und Weise widersprüchliche Ansichten zu begründen und Unvereinbares beiseitezuwischen. Der Wissenschaftler Dan Kahan ließ Menschen mathematische Aufgaben lösen, die etwas mit Handcreme zu tun hatten. Im zweiten Schritt bekamen sie ähnliche Aufgaben, aber diesmal im Zusammenhang mit einem politischen Thema. Im zweiten Fall hing die Fähigkeit der Menschen, die Aufgabe mathematisch lösen zu können, stark von ihrer politischen Einstellung zum Thema der Aufgabe ab. Diese Untersuchung hat gezeigt, dass Menschen meist nur an den Informationen interessiert sind, die ihre bisherigen Überzeugungen bestätigen. (...)
Es ist völlig rational, Informationen auf diese Weise zu filtern. Denn wenn ein Mensch seine Überzeugungen verändert, riskiert er, dass seine soziale Stellung in Gefahr gerät. Er könnte Freunde verlieren, vielleicht sogar sein Einkommen. Irrt sich der Mensch dagegen in Bezug auf die Wissenschaft, wird er nicht dafür zur Kasse gebeten. Aber der Preis dafür, eine andere Linie zu vertreten als die eigene Familie oder die Kollegen, kann extrem hoch sein."
Foto: C.E.
Danke, HP, für das Zitat!

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