Dienstag, 6. Mai 2025

Die alten Reflexe

Meine Haupt­ar­beits­spra­che beim Dol­met­schen ist Fran­zö­sisch, in beide Rich­tun­gen. Deutsch ist meine Mut­ter- und wich­tigs­te Schrift­spra­che, meine Büro­kol­le­gin über­setzt ins Eng­li­sche. Wir sind Zeit­ge­nos­sin­nen, den­ken über Kon­fe­ren­zen hin­aus, tref­fen Ent­schei­dun­gen, die nicht nur sprach­li­cher Art sind.

Neu­lich habe ich wie­der im Bun­des­rat ge­dol­metscht. Die Bän­ke der Bun­des­län­der be­rühr­ten mich je­des Mal. Ich kann mich noch gut an die Mau­er­zeit er­in­nern. Deutsch­land ist noch im­mer ge­teilt, heu­te auf an­de­re Wei­se.

Bundesratsbänke des Landes Sachsen
... ist die Heimat meines Vaters
Frü­her hieß es: "In den Par­la­men­ten sitzen x Pro­zent Be­am­te." Das wur­de zu: "... sit­zen vie­le Straf­tä­ter", be­son­ders un­ter Rechts­ex­tre­men, ge­si­chert ver­ur­teilt we­gen Waf­fen­be­sitz, Kör­per­ver­let­zung, Be­lei­di­gung. Das Re­cher­che­netz­werk correctiv hat schon April '24 et­li­che Fäl­le auf­ge­deckt. Die Be­trof­fe­nen blei­ben im Amt oder kom­men erst nach Ver­ur­tei­lung hin­ein. Das ist ein­zig­ar­tig in der deut­schen Par­tei­en­land­schaft; bei an­de­ren ist der Druck meist zu groß, au­ßer bei Par­tei­spen­den­af­fä­ren, wir er­in­nern uns.

Das pas­si­ve Wahl­recht ge­hört drin­gend re­for­miert, eine Auf­ga­be, die die Am­pel lei­der lie­gen­ge­las­sen hat, über­rollt von Het­ze und in­ter­ner Blo­ka­de.

In un­se­rem Land wer­den grund­sätz­lich sehr vie­le Men­schen si­cher­heits­ge­prüft, wir Dol­met­scher­in­nen auch. Wer in Ki­ta oder Schu­le ar­bei­tet, braucht ein sau­be­res Füh­rungs­zeug­nis, und zwar völ­lig zu­recht. Al­so noch­mal: Straf­tä­ter im Par­la­ment?

Da­zu kommt die Ab­sur­di­tät: Exakt je­ne, die Angst schü­ren, sind Teil der Un­si­cher­heit mit ih­ren simp­len Ant­wor­ten. Es negie­re die viel­fa­che Spaltung der Ge­sell­schaft kei­nes­falls. Ich er­le­be, wie ei­ner Ex-Kol­le­gin in Düs­sel­dorf von post­mi­gran­ti­schen Nach­barn das Le­ben im ge­erb­ten Haus zur Höl­le ge­macht wird, denn sie zählt in ih­rem Wohn­vier­tel in­zwi­schen zur Min­der­heit. Sie hat Ge­walt­er­fah­rung ma­chen müs­sen, da reißt je­de neue An­deu­tung die Wun­den wie­der auf. Die Po­li­zei schaut weg und gießt da­mit Öl ins Feu­er. War­um?

Ähn­li­ches be­richt­en Freun­de aus dem Os­ten, dies­mal aus der an­de­ren Rich­tung. Sie al­le wäh­len trot­zdem nicht rechts­ex­trem. Die­se Par­tei zeigt stän­dig auf an­de­re, Mi­gran­ten et­wa, wohl auch, um vom ei­ge­nen Vor­stra­fen­re­gis­ter ab­zu­len­ken. Zum Glück wird hier und da er­mit­telt und Im­mu­ni­tät auf­ge­ho­ben. Doch das ist zu we­nig.

Wie also um­ge­hen mit je­nen, die sich schon bei „ge­fühl­ter Be­dro­hung“ ra­di­ka­li­sie­ren? Im Os­ten, wo kaum Mi­gran­ten le­ben, ist die An­fäl­lig­keit für Het­ze groß. Die neue deut­sche Gren­ze ist nicht geo­gra­fisch, son­dern so­zi­al. Auch an­ders­wo grei­fen Rechts­ex­tre­me nach Ent­täusch­ten und Aus­ge­grenz­ten. Manch­mal reicht auch un­ter Ge­bil­de­ten der Wil­le zur Macht bei ei­ner Par­tei, die mehr Man­da­te hat als pas­sa­ble Man­dat­strä­ger­in­nen. Doch die­se Men­schen wer­den be­nutzt, zu Stimm­vieh ge­macht, das bald ig­no­riert wird, denn die Par­tei hat al­les an­de­re vor, als die In­ter­es­sen der Ärm­sten zu ver­tei­di­gen. Sie ste­hen eher für das, was wir in den USA se­hen, das Durch­drü­cken der In­ter­es­sen li­ber­tä­rer Su­per­rei­chen, et­wa um so­zia­le Sys­te­me ab­zu­schaf­fen, Eu­ro­pa zu schwä­chen, au­to­ri­tär durch­zu­re­gie­ren.

Wie kön­nen wir von der de­mo­kra­ti­schen Ba­sis aus da­ge­gen­hal­ten? Wel­che Er­fah­run­gen bräuch­ten die­se Men­schen? Kön­nen wir sie er­rei­chen? Sie le­sen die Pro­gram­me nicht, fol­gen „Füh­rern“, statt zu hin­ter­fra­gen, nicht nur mangels Bil­dung. Wo bleibt die psy­cho­lo­gi­sche, so­zio­lo­gi­sche, kom­mu­ni­ka­ti­ve Ge­gen­stra­te­gie?

Wel­che ver­trau­ens­bil­den­den Maß­nah­men wä­ren mög­lich? Wie schaf­fen wir es, da nicht nur die Stirn zu bie­ten, son­dern ei­nes Ta­ges wie­der die Hand rei­chen zu kön­nen? Und ab wann müs­sen wir uns ein­ge­ste­hen, dass bei ei­nem Teil (der­zeit) Hop­fen und Malz ver­lo­ren sind?

An ers­ter Stel­le muss kon­zer­tier­tes Han­deln ste­hen, kei­ne wei­te­re Spal­tung. Wir brau­chen heu­te klu­ge, zu­kunfts­or­i­en­tier­te Po­li­tik, kei­ne Re­zep­te von ges­tern für die Kri­sen von mor­gen, so­zi­al ori­en­tiert, fak­ten­ba­siert und mit Blick aufs Über­le­ben des Pla­ne­ten.

Doch das wird schwer. Unser Den­ken ist alt: Wir re­a­gie­ren wie Ur-Men­schen, die ge­ra­de das Feu­er ent­deckt ha­ben, die die ge­fühlt erst "seit eben" leich­ter ver­dau­li­che Din­ge es­sen, Le­bens­mit­tel in Rauch halt­bar ma­chen, da­mit un­se­ren Ra­di­us ver­grö­ßern, ers­te Plä­ne an­stel­len und Auf­ga­ben de­le­gie­ren kön­nen, der Be­ginn der Spe­zia­li­sie­run­gen. Wir er­ken­nen bis heu­te als ers­tes Sche­men wie ein wil­des Tier im Ge­büsch. Wir wer­ten blitz­schnell, Details sind Ne­ben­sa­che, und wir ent­schei­den im­pul­siv: An­griff oder Rück­zug.

Das war einst ei­ne über­le­bens­wich­ti­ge Stra­te­gie. Wir ha­ben sie bis heu­te in den Kno­chen. Doch jetzt sind Dif­fe­ren­zie­rung, Ko­ope­ra­ti­on und Re­fle­xi­on nö­tig. Es wird schwer, mit die­ser sim­plen Struk­tur auf die Her­aus­for­de­run­gen ei­ner Pro­blem­la­ge zu ant­wor­ten, in die wir die ei­ge­ne Spe­zies selbst ge­bracht ha­ben: Raub­bau an der Na­tur, Ver­skla­vung von Men­schen, Krie­ge, Kli­ma­ka­ta­stro­phe.

Im Thril­ler "Im Sturm der Macht" von Tuo­mas Os­ka­ri ist zu le­sen: "Wenn sich Men­schen als Teil ei­ner ho­mo­ge­nen Grup­pe füh­len, er­le­digt ihr Ge­hirn den Rest. Men­schen sind in der La­ge, auf ver­blüf­fen­de Art und Wei­se wi­der­sprüch­li­che An­sich­ten zu be­grün­den und Un­ver­ein­ba­res bei­sei­te­zu­wi­schen. Der Wis­sen­schaft­ler Dan Ka­han ließ Men­schen ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­ben lö­sen, die et­was mit Hand­cre­me zu tun hat­ten. Im zwei­ten Schritt be­ka­men sie ähn­li­che Auf­ga­ben, aber dies­mal im Zu­sam­men­hang mit ei­nem po­li­ti­schen The­ma. Im zwei­ten Fall hing die Fä­hig­keit der Men­schen, die Auf­ga­be ma­the­ma­tisch lö­sen zu kön­nen, stark von ih­rer po­li­ti­schen Ein­stel­lung zum The­ma der Auf­ga­be ab. Die­se Un­ter­su­chung hat ge­zeigt, dass Men­schen meist nur an den In­for­ma­tio­nen in­ter­es­siert sind, die ih­re bis­he­ri­gen Über­zeu­gun­gen be­stä­ti­gen. (...)

Es ist völ­lig ra­tio­nal, In­for­ma­tio­nen auf die­se Wei­se zu fil­tern. Denn wenn ein Mensch sei­ne Über­zeu­gun­gen ver­än­dert, ris­kiert er, dass sei­ne so­zia­le Stel­lung in Ge­fahr ge­rät. Er könn­te Freun­de ver­lie­ren, viel­leicht so­gar sein Ein­kom­men. Irrt sich der Mensch da­ge­gen in Be­zug auf die Wis­sen­schaft, wird er nicht da­für zur Kas­se ge­be­ten. Aber der Preis da­für, ei­ne an­de­re Li­nie zu ver­tre­ten als die ei­ge­ne Fa­mi­lie oder die Kol­le­gen, kann ex­trem hoch sein."

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Fo­to: C.E.
Dan­ke, HP, für das Zi­tat!

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