Sonntag, 18. August 2024

Großstadtarchäologie

Gu­ten Tag oder gu­ten Abend! Sie le­sen hier ein Ar­beits­ta­ge­buch rund um die The­men Spra­che, Dol­met­schen, Über­set­zen und Kul­tu­ren. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­le­rin ar­bei­te ich in Pa­ris, Ber­lin, Mar­burg und wo im­mer ich ge­braucht wer­de. Sonn­tags­bil­der!

Bäume wachsen zwischen Treppenstufen, heben die Trittsteine an
Un­ter dem Pflas­ter ...
Im Her­zen von Ber­lin liegt ein ver­ges­se­nes, ver­nach­läs­sig­tes Denk­mal. Ich war schon oft in sei­ner Nä­he, woll­te es jetzt mit Freun­den se­hen. Wir muss­ten erst su­chen.

Das Ge­län­de ist ein 1,3 Hek­tar gro­ßes Drei­eck mit vie­len Bäu­men, da­zwi­schen ste­hen sarg­ähn­li­che Be­ton­käs­ten, die mit Holz be­plankt sind. Wir haben uns ge­fragt, ob es sich um Lüf­tungs­schäch­te des Bahn­hofs han­del­t, des­sen un­ter­ir­di­sche Aus­läu­fer bis hier­her rei­chen könn­ten, um ein Kunst­werk oder um Sitz­bän­ke.

An der Breit­sei­te des Ge­län­des wur­de an der brei­ten Bö­schung ein schma­les Trep­pen­band frei­ge­legt, das zur Stra­ße hin­auf­führt.  

Zwischen den an­de­ren Stu­fen wach­sen Bäu­me. An vie­len Stel­len ist halb­ver­wit­te­ter Müll zu seh­en, ir­gend­wo schnarcht ein Ob­dach­lo­ser. 

ver­müll­te Stu­fen, Blick zu­rück in den wei­te­ren Teil
... liegt ein Ta­tor­t!

In ei­nem fran­zö­si­schen Rei­se­füh­rer le­sen wir, ich über­set­ze mal schnell in Roh­fas­sung: "1879 gin­gen die ers­ten Be­su­cher die­se Trep­pe hin­un­ter auf ih­rem Weg zum frisch er­öff­ne­ten Mes­se­ge­län­de "ULAP". Die ers­te Aus­stel­lung war der In­dus­trie ge­wid­met, die nächs­te der Hy­gie­ne, und bis Mit­te der 20er Jah­re folg­ten wei­te­re", da­run­ter jähr­li­che Kunst­aus­stel­lun­gen, und "1936, im Jahr der Olym­pi­schen Spie­le, prä­sen­tier­te sich hier die Deut­sche Luft­fahrt­sam­mung Ber­lin mit dem größ­ten Flug­zeug der Welt ...". ULAP steht für Uni­ver­sum Lan­des-Aus­stel­lungs­park. Das Mes­se­ge­län­de war einst 61.000 Qua­drat­me­ter groß, al­so ist we­ni­ger als ein Fünf­tel des eins­ti­gen Aus­stell­ungs­be­reichs übrig.

Die frü­he­re Grö­ße wird über­haupt erst beim Nach­le­sen im Netz deut­lich, näm­lich der gan­ze Zwick­el zwi­schen dem da­ma­li­gen Lehr­ter Stadt­bahn­hof, klei­ner als der Bahn­hof heu­te, und dem Gü­ter­bahn­hof im Nor­den, von der Bahn­li­nie durch­schnit­ten. Von den zum Teil fes­ten Ge­bäu­den und An­la­gen ist nicht mehr viel übrig. Ir­gend­wo scheint sich ein gro­ßes Rund im Bo­den ab­zu­zei­chen.

Doch der Bo­den birgt auch an­de­re Ge­heim­nis­se, und zwar dra­ma­ti­sche! Immer wie­der war das Ge­län­de Schau­platz po­li­ti­scher Mor­de, von den An­fän­gen der Wei­ma­rer Re­pu­blik bis En­de April 1945, als hier po­li­ti­sche Häft­lin­ge aus dem na­he ge­le­ge­nen Ge­fäng­nis Mo­a­bit er­mor­det wur­den. Die Rui­nen der letz­ten mas­si­ven Ge­bäu­de des Mes­se­ge­län­des wur­den kurz nach dem Bau der Ber­li­ner Mau­er ab­ge­ris­sen, weil sie durch die Mau­er plötzlich am Stadt­rand la­gen, un­weit des Nie­mands­lan­des.

Glaspalast
Aus­stel­lungs­hal­le
Es stan­den dort auch Stahl-Glas-Bau­ten, wie es sie bei der Welt­aus­stel­lung in Pa­ris gab, der Eif­fel­turm (oh­ne viel Glas) und das Grand Pa­lais, bei­de soll­ten spä­ter wie­der ab­ge­ris­sen wer­den, wie es da­mals für Mes­se­bau­ten üb­lich war. (Das Palais war bei Er­öff­nung der Olym­pi­schen Spie­le zu se­hen, von hier hat ei­ne Opern­sän­ge­rin die Mar­sei­llaise ge­sun­gen.)

Dass das ULAP-Ge­län­de zu­ge­wach­sen ist, sei Ab­sicht, le­se ich spä­ter bei Wi­ki­pe­dia, die Kä­sten sei­en Bän­ke, die nachts von in­nen leuch­ten, ein Werk der "Reh­waldt Land­schafts­ar­chi­tek­ten", hier ent­lang zum Zu­stand bei Über­ga­be. Die An­la­ge stammt von 2008 und be­kam 2009 den Preis für Deut­sche Land­schafts­ar­chi­tek­tur. In­zwi­schen ist die Sicht­ach­se zum Haupt­bahn­hof mit ren­di­te­op­ti­mier­ter Weg­werf­ar­chi­tek­tur ver­stellt.

Was hier fehlt: Be­schil­de­rung in meh­re­ren Spra­chen, in­for­mati­ve Tafeln, ger­ne auch mit scann­ba­ren Codes, die zu mehr­spra­chi­gen Au­dio­quel­len zum Ort füh­ren, um die ver­schie­de­nen his­to­ri­schen Schich­ten zu er­zäh­len, da­zu ein we­nig Pfle­ge und viel­leicht sogar ei­ne Ste­le am Ein­gang als Kranz­ab­wurf­stel­le mit Nach­bar­schafts­ef­fekt. Denn di­rekt vis-à-vis ha­be ich wie­der­holt im Re­stau­rant Pa­ris-Mo­s­kau ge­dol­metscht oder di­rekt im In­nen­mi­nis­te­ri­um; dass sich dort auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ein Mahn­mal ge­gen Krieg und Fa­schis­mus be­fin­det, war nicht zu er­ah­nen. Und ge­mein­sa­mes Ge­den­ken mit aus­län­di­schen Gäs­ten an Ge­wal­top­fer passt doch meis­tens.

Historischer Stadtplan
Aus dem Stadtplan von 1915
Ber­lin ist ei­ne span­nen­de Stadt. Auch nach vie­len Jahr­zehn­ten als Teil­zeit-Ber­lin­e­rin kann ich stän­dig Neu­es ent­de­cken.

Wir sind dann noch ein we­nig in der Ge­gend spa­zie­ren ge­we­sen und wollten ei­gent­lich zum Zoll­pack­hof. Doch die Nach­bar­schaft war ir­ri­tie­rend. Un­ter den Glei­sen in Bahn­hofs­nä­he: Ver­ges­se­ne Big-Bags und Bau­tei­le hin­ter ei­nem Zaun mit viel Staub dar­auf, als wä­re dieser Ver­kehrs­kno­ten­punkt eben erst der Öf­fent­lich­keit über­ge­ben wor­den. Da­bei war das 2006, zur Fuß­ball-WM. Und hin­ter dem In­nen­mi­nis­te­ri­um ein Bau­zaun oh­ne jeg­li­che Be­schil­de­rung (was, wie lan­ge, wohin statt­des­sen ...?), zum Mi­nis­te­ri­um hin der Si­cher­heits­zaun mit ro­hen Bret­tern er­gänzt.

Das ein­zi­ge mo­der­ne Mo­ment in der Zo­ne wa­ren vie­le Ka­me­ras. Auf mich wir­k­te das Gan­ze wie die Müll­kip­pe neben dem Lux­us­ho­tel, ei­ne Sze­ne­rie, die ich in ei­ni­gen we­ni­ger in­dus­tria­li­sier­ten Län­dern schon öf­ter ge­se­hen ha­be. Ich muss­te schlu­cken.

Ei­ner der April 1945 auf dem ULAP-Ge­län­de Er­mor­de­ten war der Geo­graph Al­brecht Haus­ho­fer. In sei­ner Jacken­ta­sche wur­den spä­ter Ver­se sei­ner "Moabi­ter So­net­te" ge­fun­den, für mich ei­ne Ent­de­ckung. Zitat aus dem So­nett "Schuld": "Ich kann­te früh des Jam­mers gan­ze Bahn.| Ich hab ge­warnt — nicht hart ge­nug und klar! | Und heu­te weiß ich, was ich schul­dig war."


Zum Wei­ter­le­sen:
— 1895 Ber­lin, Lan­des­aus­stel­lungs-Pa­last am Lehr­ter Bahn­hof, samm­lung-on­line.stadt­mu­se­um.de
— Rich­ters Rei­se­füh­rer. Ber­lin und Um­ge­bung. Ham­burg 1915, über Wi­ki­pe­dia
— Die Neu­bau­pla­nung für die Nach­bar­schaft löst Kon­tro­ver­sen aus: www.moabit­on­line.de
— Ber­lin in­so­li­te et se­cret, Stadt­füh­rer, auf FR, www.jong­lez­pub­li­shing.com

______________________________
Fo­tos: C.E. und die ge­nann­ten Qu­el­len

Keine Kommentare: