Hello, guten Tag oder bonjour auf den Seiten einer Spracharbeiterin. In diesem digitalen Tagebuch können Sie an einigen Tagen in der Woche erfahren, wie wir Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen, Übersetzer und Dolmetscher arbeiten. Heute: Mein Link der Woche heute ohne Link. Solche Nachrichten wiederholen sich leide in Dauerschleife.
In den USA gibt es fast täglich das das, was früher
mass shooting hieß, übersetzt als „Amoklauf“, wörtlich: „Massenschießerei“ (wobei Massenschießerei für mich nach mehreren Schützen klingt, nicht nach einer durchgeknallten Person). Dieser Tage habe ich in amerikanischen Medien das Wort
gun incident gelesen. Wie bitte? Wörtlich übertragen: „Zwischenfall mit einer Waffe“.
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| Über Sprache nachzudenken lohnt sich |
Gewaltverharmlosung in Berichterstattung, Politik und Wirtschaft ist Alltag geworden. Das ist gefährlich. Sprache prägt unseren Blick, also unsere Perspektive auf die Welt, in anderen Worten: Standpunkt und Ansichten. Und Ansichten beeinflussen unser Verhalten, ohne, dass wir uns dessen bewusst sein müssen. Für mich als Dolmetscherin ist das Alltag.
Ich stoße immer öfter auf diese „weichen“ Begriffe, die nach Wortlügen klingen. Sie sind selten zufällig, sondern bewusst gesetzte Sprachstrategien. Manche klingen neutral, andere fast fürsorglich. Alle verfolgen dasselbe Ziel: Sie sollen Widerstand abbauen.
Ein paar Beispiele, die mir regelmäßig begegnen: „Entsorgungspark“ klingt umweltfreundlich, ist aber oft nur eine Müllhalde.
Statt „Entlassungen“ heißt es „Freisetzung von Mitarbeitern“. „Restrukturierung“ klingt nach schöner Ordnung, meint aber meistens Stellenabbau oder Verlagerung ins Ausland.
„Preiserhöhungen“ werden zu „orientierter Preisgestaltung“. Tracking der mobilen Endgeräte, also Überwachung plus bewusst gesetzte Kaufreize, heißen plötzlich „verbessertes Einkaufserlebnis“. Und statt „weniger Inhalt bei gleichem Preis“ heißt es schön kaschierend: „Optimierung der Verpackungsgröße“
Auch aus Verwaltungspost schaut uns so manches Wörtchen dieser Kategorie entgegen: Eine „Beitragsanpassung“ klingt technisch, heißt aber fast immer: höhere Beiträge.
Meistens merken wir das nicht einmal mehr. Über die großen sprachlichen Umkehrkonstruktionen müssen wir länger nachdenken. „Arbeitnehmer“ geben ihre Arbeitskraft, „Arbeitgeber“ sind diejenigen, die sie entgegennehmen. Eigentlich müsste es umgekehrt heißen. Es sind Perspektivverschiebungen, die die Position der Berufstätigen schwächen sollen.
Als Dolmetscherin habe ich keine Wahl: Ich muss den genauen Begriff übertragen und vorab nach der Wortlüge in der anderen Sprache suchen, auch wenn sie beschönigt. Keine Ironie, kein Zwischenton, keine Korrektur, sind erlaubt. Aber ich darf mir meinen Teil denken.
Besonders deutlich ist das im Marketing. Dort heißt es, „Friction“ müsse abgebaut werden, gemeint ist: Wir sollen möglichst reibungslos mehr zahlen, mehr klicken, länger online bleiben. Euphemismen sind dabei das perfekte Werkzeug. Sie schaffen eine positive Rahmung, ein Framing. Schon das Wort „kundenorientiert“ aktiviert etwas Freundliches, bevor ich überhaupt den höheren Preis gesehen habe.
Das ist nicht nur Wirtschaftsrhetorik. Dieselben Mechanismen tauchen in der Politik auf. Dort ist eine „Militäroperation“ kein Krieg
(Put(a)in de m*rde), eine „Anpassung von Sozialleistungen“ oft eine Kürzung, und ein „gun incident“ klingt fast harmlos, das
school shooting erwähnt nur den Ort und den Vorfall. Vor allem benennt das alles weder Täter noch Opfer. Haupttäter (oder mindestens zentrale Mitverantwortliche) könnten aus Opferperspektive die vielen Regierungen in Folge sein, die Waffen in den USA Privatleuten nicht längst verboten haben.
Solche Wörter wirken so stark, weil Sprache direkt ins Gefühl geht. Wir gewöhnen uns an Begriffe (Gewöhnungseffekt), wir meiden alles, was nach Verlust klingt (Verlustaversion), und wir akzeptieren eher das, was schon voreingestellt ist (Default-Effekt). Sprache baut Widerstände ab, indem sie das Scharfe wegschleift.
Wortlügen gibt es überall. Auf Rechnungen, in AGB, in Apps, in den Nachrichten. Sie sind kein Schönheitsfehler, sondern Werkzeuge, um unsere Wahrnehmung zu steuern. Umso wichtiger ist es, sie zu erkennen und manchmal auch zu übersetzen, was gemeint ist. Denn nichts wirkt leiser (und zugleich lauter) als eine geschickt platzierte Wortlüge, die wir am besten durch Perspektivwechsel erkennen.
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Grafik: Wortwolke