Samstag, 30. August 2025

Perspektivwechsel

Hel­lo, gu­ten Tag oder bon­jour auf den Sei­ten ei­ner Sprach­ar­bei­te­rin. In die­sem di­gi­ta­len Ta­ge­buch kön­nen Sie an ei­ni­gen Ta­gen in der Wo­che er­fah­ren, wie wir Dol­met­sche­rin­nen und Über­set­ze­rin­nen, Über­set­zer und Dol­met­scher ar­bei­ten. Heu­te: Mein Link der Wo­che heu­te oh­ne Link. Sol­che Nach­rich­ten wie­der­ho­len sich lei­de in Dau­er­schlei­fe.

In den USA gibt es fast täg­lich das das, was frü­her mass shoo­ting hieß, über­setzt als „Amok­lauf“, wörtlich: „Mas­sen­schie­ße­rei“ (wo­bei Mas­sen­schie­ße­rei für mich nach meh­re­ren Schüt­zen klingt, nicht nach ei­ner durch­ge­knall­ten Per­son). Die­ser Ta­ge ha­be ich in ame­ri­ka­ni­schen Me­di­en das Wort gun inci­dent ge­le­sen. Wie bit­te? Wört­lich über­tragen: „Zwi­schen­fall mit ei­ner Waf­fe“.

Perspektive Strategie Re­struk­tu­rie­rung Frei­set­zung Targeting Tracking Optimierung Preisanpassung Arbeitnehmer Friktion Kundenorientierung Optimierung Operation Ereignis Park Entsorgung
Über Spra­che nach­zu­den­ken lohnt sich
Ge­walt­ver­harm­lo­sung in Be­richt­er­stat­tung, Po­li­tik und Wirt­schaft ist All­tag ge­wor­den. Das ist ge­fähr­lich. Spra­che prägt un­se­ren Blick, al­so un­se­re Pers­pek­ti­ve auf die Welt, in an­de­ren Wor­ten: Stand­punkt und An­sich­ten. Und An­sich­ten be­ein­flus­sen un­ser Ver­hal­ten, ohne, dass wir uns des­sen be­wusst sein müs­sen. Für mich als Dol­met­sche­rin ist das All­tag.

Ich sto­ße im­mer öf­ter auf die­se „wei­chen“ Be­grif­fe, die nach Wort­lü­gen klingen. Sie sind sel­ten zu­fäl­lig, son­dern be­wusst ge­setz­te Sprach­stra­te­gi­en. Man­che klin­gen neu­tral, an­de­re fast für­sorg­lich. Al­le ver­fol­gen das­sel­be Ziel: Sie sol­len Wi­der­stand ab­bau­en.

Ein paar Bei­spie­le, die mir re­gel­mä­ßig be­geg­nen: „Ent­sor­gungs­park“ klingt um­welt­freund­lich, ist aber oft nur ei­ne Mül­l­hal­de.

Statt „Ent­las­sun­gen“ heißt es „Frei­set­zung von Mit­ar­bei­tern“. „Re­struk­tu­rie­rung“ klingt nach schö­ner Ord­nung, meint aber meis­tens Stel­len­ab­bau oder Ver­la­ge­rung ins Aus­land.

„Preis­er­hö­hun­gen“ wer­den zu „ori­en­tier­ter Preis­ge­stal­tung“. Track­ing der mo­bi­len End­ge­rä­te, al­so Über­wa­chung plus be­wusst ge­setz­te Kauf­rei­ze, hei­ßen plötz­lich „ver­bes­ser­tes Ein­kaufs­er­leb­nis“. Und statt „we­ni­ger In­halt bei glei­chem Preis“ heißt es schön ka­schie­rend: „Op­ti­mie­rung der Ver­pa­ckungs­grö­ße“

Auch aus Ver­wal­tungs­post schaut uns so man­ches Wört­chen die­ser Ka­te­go­rie entgegen: Ei­ne „Bei­trags­an­pas­sung“ klingt tech­nisch, heißt aber fast im­mer: hö­he­re Bei­trä­ge.

Meis­tens mer­ken wir das nicht ein­mal mehr. Über die gro­ßen sprach­li­chen Um­kehr­kon­struk­tio­nen müs­sen wir län­ger nach­den­ken. „Ar­beit­neh­mer“ ge­ben ih­re Ar­beits­kraft, „Ar­beit­ge­ber“ sind die­je­ni­gen, die sie ent­ge­gen­neh­men. Ei­gent­lich müss­te es um­ge­kehrt hei­ßen. Es sind Pers­pek­tiv­ver­schie­bungen, die die Po­si­ti­on der Be­rufs­tä­ti­gen schwä­chen sol­len.

Als Dol­met­sche­rin ha­be ich kei­ne Wahl: Ich muss den ge­nau­en Be­griff über­tra­gen und vor­ab nach der Wort­lü­ge in der an­de­ren Spra­che su­chen, auch wenn sie be­schö­nigt. Kei­ne Iro­nie, kein Zwi­schen­ton, kei­ne Kor­rek­tur, sind er­laubt. Aber ich darf mir mei­nen Teil den­ken.

Be­son­ders deut­lich ist das im Mar­ke­ting. Dort heißt es, „Fricti­on“ müs­se ab­ge­baut wer­den, ge­meint ist: Wir sol­len mög­lichst rei­bungs­los mehr zah­len, mehr kli­cken, län­ger on­line blei­ben. Eu­phe­mis­men sind da­bei das per­fek­te Werk­zeug. Sie schaf­fen ei­ne po­si­ti­ve Rah­mung, ein Framing. Schon das Wort „kun­den­ori­en­tiert“ ak­ti­viert et­was Freund­li­ches, be­vor ich über­haupt den hö­he­ren Preis ge­se­hen ha­be.

Das ist nicht nur Wirt­schafts­rhe­to­rik. Die­sel­ben Me­cha­nis­men tau­chen in der Po­li­tik auf. Dort ist ei­ne „Mi­li­tär­ope­ra­ti­on“ kein Krieg (Put(a)in de m*rde), ei­ne „An­pas­sung von So­zi­al­leis­tun­gen“ oft ei­ne Kür­zung, und ein „gun inci­dent“ klingt fast harm­los, das school shoo­ting er­wähnt nur den Ort und den Vor­fall. Vor al­lem be­nennt das al­les we­der Tä­ter noch Op­fer. Haupt­täter (oder min­des­tens zen­tra­le Mit­ver­ant­wort­li­che) könn­ten aus Op­fer­pers­pek­ti­ve die vie­len Re­gie­run­gen in Fol­ge sein, die Waf­fen in den USA Pri­vat­leu­ten nicht längst ver­bo­ten ha­ben.

Sol­che Wör­ter wir­ken so stark, weil Spra­che di­rekt ins Ge­fühl geht. Wir ge­wöh­nen uns an Be­grif­fe (Ge­wöh­nungs­ef­fekt), wir mei­den al­les, was nach Ver­lust klingt (Ver­lust­aver­si­on), und wir ak­zep­tie­ren eher das, was schon vor­ein­ge­stellt ist (De­fault-Ef­fekt). Spra­che baut Wi­der­stän­de ab, in­dem sie das Schar­fe weg­schleift.

Wort­lü­gen gibt es über­all. Auf Rech­nun­gen, in AGB, in Apps, in den Nach­rich­ten. Sie sind kein Schön­heits­feh­ler, son­dern Werk­zeu­ge, um un­se­re Wahr­neh­mung zu steu­ern. Umso wich­ti­ger ist es, sie zu er­ken­nen und manch­mal auch zu über­set­zen, was ge­meint ist. Denn nichts wirkt leiser (und zu­gleich lau­ter) als ei­ne ge­schickt plat­zier­te Wort­lü­ge, die wir am bes­ten durch Pers­pek­tiv­wech­sel er­ken­nen.

______________________________
Grafik: Wortwolke

Keine Kommentare: