Mittwoch, 31. Juli 2024

Le hinterland (4)

Zu­fäll­ig oder ab­sicht­lich sind Sie hier ge­lan­det, bonjour ! Was wir Dol­met­scher und Über­setzer ma­chen, be­schäf­tigt mich hier. (Ich be­nut­ze kurz den männ­li­chen Ober­be­griff, um im Netz bes­ser ge­sehen zu wer­den, ob­wohl der Be­ruf über­wie­gend weib­lich ist). Wir be­ob­ach­ten der­zeit sehr ge­nau, was sich im Be­reich Tech­no­lo­gie tut.

Die KI ver­än­dert das Be­rufs­feld. Über­set­zer:in­nen se­hen sich häu­fig vor die He­raus­for­de­rung ge­stellt, nur noch von der KI vor­über­tra­ge­ne Tex­te "kor­ri­gie­ren" zu müs­sen, heu­te vor ei­ner Wo­che habe ich da­rü­ber ge­schrie­ben. Und jetzt sit­ze ich an eben­die­ser Dreh­buch­über­set­zung!

Frau vor Tastatur
So sieht mich die KI
Je kom­ple­xer ein Text, des­to we­niger ist das mach­bar. Die Grün­de ha­be ich auf die­sen Sei­ten be­reits er­klärt. Es liegt unter an­de­rem am je­wei­li­gen Hin­ter­land der Ge­dan­ken und Be­grif­fe. Das deut­sche Wort Hin­ter­land ist so prä­gend, dass ich es als Lehn­wort im Fran­zö­si­schen und Eng­li­schen ge­hört ha­be.

Hier die Kurz­fas­sung: Je­de Kul­tur prägt ih­re Spra­che, ih­re Mo­den und ih­re Be­grif­fe, die nicht al­lein im Raum ste­hen, wie die Meis­ter der KI an­zu­neh­men schei­nen, son­dern ein kul­tu­rel­les Hin­ter­land ha­ben. Die­ses Hin‍‍­ter‍‍­land ist von Sprach‍‍­raum zu Sprach‍‍­raum, von Re‍‍­gion zu Re‍‍­gion, von Ge‍‍­ne‍‍­ra‍‍­tion zu Ge‍‍­ne‍‍­ra‍‍­tion, ja so‍‍­gar von Fa‍‍­mi‍‍­lie zu Fa‍‍­mi‍‍­lie mög‍‍­li‍‍­cher‍‍­wei‍‍­se an‍‍­ders. Wir Men‍‍­schen ma‍‍­chen uns kun‍‍­dig, er‍‍­ken‍‍­nen auch das ei‍‍­ge‍‍­ne Nicht‍‍­wis‍‍­sen, re‍‍­cher‍‍­chie‍‍­ren und fin‍‍­den Wor‍‍­te, bei de‍‍­nen das Hin‍‍­ter‍‍­land mit hin‍‍­durch‍‍­scheint, zu­min­dest für vie­le Men­schen der ak­tu­ell le­ben­den Ge­ne­ra­tio­nen.

Sie kön‍‍­nen sich nur schwer vor‍‍­stel‍‍­len, was ich mei‍‍­ne? Den­ken Sie ein­fach kurz ein­mal an fol­gen­de Be­grif­fe: Ro­te Grüt­ze, Sa­cher­tor­te, Ap­fel­ku­chen. Schau­en Sie mal auf die Bil­der, die jetzt vor Ih­rem in­ne­ren Au­ge auf­tau­chen. Den­ken Sie sich kurz in Si­tua­tio­nen hin­ein, in de­nen Sie das ge­ges­sen ha­ben.

Glau­ben Sie, dass es vie­le Men­schen gibt, die hier bei al­len drei Be­grif­fen an das Glei­che den­ken?

Für mich wä­ren das: Som­mer­fe­rien in Sach­sen, Bee­ren­le­se im Eins-zu-eins-Mo­dus (ein Teil Mund, ein Teil Scha­le), die al­te Pud­ding­form, die bis heu­te "die Wild-Groß­mut­ter" heißt, weil ei­ne "Oma Wild" in Flo­renz vor et­li­chen Ge­ne­ra­ti­on­en ein ähn­lich run­des Ge­sicht hat­te. (Hier habe ich et­was ähn­li­ches im Online-Mu­se­um Rhein­land-Pfalz ge­fun­den: klick!) Oder: Wien, Pfer­de­mist auf den Stra­ßen, Huf­ge­klap­per, Re­gen, die Woh­nung ei­ner al­ten Nen­ntan­te, die aus ei­ner Zim­mer­flucht und Mu­se­ums­mö­beln be­stand. Oder: ge­deck­ter Ap­fel­ku­chen mit Va­nil­leeis un­ter Bäu­men, auf dem Land, mit ei­ner Rei­se­de­le­ga­ti­on aus der Sa­hel­zo­ne im Auf­trag des Aus­wär­ti­gen Am­tes, das war ge­fühlt erst "neu­lich". 

Das ist jetzt mein ur­ei­ge­nes Hin­ter­land. Ma­le­rei, Fern­seh­se­ri­en, Ly­rik und Ro­ma­ne sor­gen lan­des­weit für das je­wei­li­ge Hin­ter­land. Ein be­rühm­tes Bei­spiel stammt vom fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler Mar­cel Proust (1871 bis 1922).

Madeleines auf einem Teller, Teetasse im Hintergrund
Ma­de­leines mit La­ven­del
Er hat die "Ma­de­lei­ne" ver­ewigt, ein fluf­fi­ges, saft­iges, bau­chi­ges Löff­el­bis­kuit, das vor­zugs­wei­se in Kräu­ter­tee zu tau­chen ist, ver­mut­lich Lin­den­blü­te. Zum As­so­zi­a­ti­ons­feld ge­hö­ren Tee­tas­se, Dorf­kir­che mit ge­drun­ge­nem Kirch­lein, das ei­ner Hen­ne gleicht, unter de­ren Dach oder Flü­geln sich die Häu­ser oder Kü­ken eng an­ein­an­der­ku­scheln.

Das war jetzt weit aus­ge­holt. Meis­tens geht es ein­fa­cher. Aber es sind ge­nau die­se Hin­ter­län­der von Wör­tern, die uns "Hu­ma­n­über­set­zer", wie ei­ne Agen­tur ne­ulich schrieb, in der Wort­aus­wahl be­ein­flus­sen. Wir den­ken und ar­bei­ten lang­sam, also nicht die­ses ei­ne Wort, hm, das ist zu neu­tral, ich be­nö­ti­ge ei­nes, das dem die­ses und je­nes an­klin­gen lässt ... was na­tür­lich je­weils vom Sinn­zu­sam­men­hang des Tex­tes ab­hängt.

Die KI "kann" Kon­text nur be­ding­t, sie denkt meis­tens von Satz­ende zu Satz­ende, manch­mal von Text­ende zu Text­ende (das ist zum Bei­spiel bei der Be­ar­bei­tung von "Prompts" durch ChatGPT der Fall). Schon Über­schriften und Bild­un­ter­schrif­ten lie­gen auf­grund der Pro­gram­mie­rung von On­line-Tex­ten der­zeit oft au­ßerhalb des "Blick­felds". Und jün­ge­re Pu­bli­ka­tio­nen zum glei­chen The­ma, die wir Men­schen mit ei­nem Klick im Netz fin­den, tau­chen im KI-Al­go­rith­mus der­zeit gar nicht auf.

Der Wan­del des Über­set­zungs­mark­tes ist al­so weniger eine He­raus­for­de­rung für die ei­ge­ne Ar­beits­wei­se als viel­mehr für un­se­re Di­rekt­kun­din­nen und -kun­den. Da­mit fällt er al­ler­dings auf uns zu­rück: Wir müs­sen ja, damit es zum Auf­trag kommt, Din­ge ge­ra­de­rücken. Da­für brau­chen wir erst erst­mal eine Ge­le­gen­heit, um Ar­gu­men­te aus­zu­tau­schen. Wir brau­­chen die Chan­ce, er­klä­ren zu dür‍­fen, dass es ei‍­ne gro‍­ßen Dis­kr­epanz gibt zwi‍­schen voll‍­mun‍­di‍­gen PR-Ver‍­spre‍­chen und har­ter Wirk‍­lich‍­keit. Kurz: Wir müs‍­sen uns über­le­gen, wo wir noch diese "Nach‍­hil‍­fe" in Sa‍­chen Mög‍­lich‍­kei‍­ten und Gren‍­zen der KI noch plat­zie­ren kön­nen.

Er‍­klä‍­ren, was an der Ba‍­sis los ist, müs‍­sen auch vie‍­le Ar‍­beit‍­neh‍­mer:‍­in‍­nen, die sich von ih‍­rer Chef‍­eta‍­ge auf‍­grund der Ver‍­hei‍­ßun‍­gen der neu‍­en Tech‍­nik vor Auf‍­ga‍­ben und Zeit‍­vor‍­ga‍­ben ge‍­stellt se‍­hen, die nicht im‍­mer er‍­füll‍­bar sind. Die Job­ver­mitt­lungs­platt­form "Up‍­work" hat ge‍­ra‍­de Stu‍­di‍­en‍­er‍­geb‍­nis‍­se da‍­zu ver‍­öf‍­fent‍­licht: "Mehr als drei von vier (77 %) ge‍­ben an, dass KI-Tools ih‍­re Pro‍­duk‍­ti‍­vi‍­tät ver‍­rin‍­gert und ih‍­re Ar‍­beits‍­be‍­las‍­tun‍­g (...) er‍­höht ha‍­ben." 47 Pro‍­zent der Be­frag­ten mein­ten, sie hät‍­ten kei‍­ne Ah‍­nung, wie sie die von ih‍­ren Ar‍­beit‍­ge‍­bern er‍­war‍­te‍­ten Pro‍­duk‍­ti‍­vi‍­täts‍­stei‍­ge‍­run‍­gen er‍­reich‍­en soll­ten.

So‍ viel zu den Fehl‍­ein‍­schät‍­zun‍­gen der Chef‍­e‍­ben‍­en. In dem Bei‍­trag ist üb‍­ri‍­gens von der "häu‍­fig ge‍­äu‍­ßer‍­ten Er‍­war‍­tung des Ma‍­na‍­ge‍­ments" die Re‍­de, dass die KI "ei‍­ne ma‍­gi‍­sche Lö‍­sung für die or‍­ga‍­ni‍­sa‍­to‍­ri‍­sche Ka‍­ta‍­stro‍­phe ist, die der Trend zu Mas‍­sen‍­ent‍­las‍­sun‍­gen dar‍­stellt."

Hier der Link zur Pub­li­ka­tion: klick! Im Um‍­fra‍­ge‍­zeit‍­raum 16.4.-5.5.2024 wur­den 2.500 Ar‍­beit‍­neh‍­mer:in­nen vor al‍­lem aus dem eng‍­lisch‍­sprach‍­i‍­gen Raum be­fragt, dar‍­un‍­ter auch 625 Frei‍­be‍­ruf‍­ler:‍­in‍­nen.

Näch‍­ste Wo‍­che folgt hier am Mitt‍­woch, dem Tag für län‍­ge‍­re Stücke, ein Ver‍­such zum The‍­ma Dol‍­met‍­schen und KI.

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Illustrationen: Pixlr und "Ma‍­de‍­lei‍­nes au miel 
de la‍­van‍­de", cray‍­on‍­mon‍­key, Wi‍­ki‍­com‍­mons

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