Mittwoch, 24. Juli 2024

Kreatives Textübersetzen

Bonjour, hello & gu­ten Tag! Auf die­sen Sei­ten er­hal­ten Sie Ein­bli­cke in mei­nen Ar­beits­all­tag als Dol­met­scherin. Mei­ne Mut­ter­spra­che ist Deutsch, und ich ar­bei­te haupt­säch­lich mit Fran­zö­sisch als Ausgangssprache. Als Dol­met­scherin bin ich al­ler­din­gs bi­la­te­ral tätig, in bei­de Rich­tun­gen, Eng­lisch grund­sätz­lich nur als Aus­gangs­spra­che. Da­für über­setzt mei­ne Büro­kol­le­gin ins Eng­li­sche.

Am Mon­tag er­hielt ich die An­fra­ge, ob ich ein KI-vo­rüber­setz­tes Dreh­buch re­di­gie­ren wol­le. Das an­ge­bo­te­ne Ho­no­rar be­trug nur 20 Pro­zent mei­nes üb­li­chen Sat­zes für ei­nen Text die­ses Schwie­rig­keits­gra­des. Mei­ne Ant­wort war klar: Nein, das will ich nicht. So­fort kam die Rück­fra­ge, ob ich je­man­den emp­feh­len kön­ne. Auch hier: Nein. Der Preis passt nicht zum Auf­trag, und der Auf­trag passt nicht zu ei­nem krea­ti­ven Text, der ei­ne ma­nu­el­le Über­set­zung er­for­dert.

Ich ha­be der po­ten­zi­el­len Kun­din nur kurz ge­ant­wor­te­t, möch­te mich aber hier aus­führ­li­cher er­klä­ren.

Ein Wald ist mehr als die Sum­me sei­ner Bäu­me

Über­tra­gen heißt das: Ein Text ist mehr als die Sum­me sei­ner Wör­ter. Au­tor:in­nen wäh­len be­stimm­te Be­grif­fe be­wusst, spie­len auf kul­tu­rel­le Phä­no­me­ne, Buch­ti­tel oder Film­zi­ta­te an, ver­mei­den ab­ge­nutz­te Be­grif­fe. Sie schaf­fen ein Ge­dan­ken­ge­flecht aus Ide­en und Be­zü­gen. All dies bleibt in ei­ner ma­schi­nel­len Über­tra­gung, die das Er­geb­nis an­ge­wand­ter Ma­the­ma­tik ist, auf der Stre­cke. Wir Men­schen in­des ken­nen das sprach­li­che und his­to­ri­sche Hin­ter­land der Begrif­fe, wir haben As­so­zia­tions­ta­lent, die Ma­schi­ne nicht. So­weit das kul­tu­rel­le Ar­gu­ment. 

Diverse merkwürdige Darstellungen von "Dolmetscher:innen"
Alles verrutscht. So sah 2023 die KI meinen Dolmetscherberuf
Nun zu mei­nem Zeit­bud­get: Beim so­ge­nann­ten Post-Edi­ting muss ich zu­erst den Aus­gangs­text und dann die ma­schi­nel­le Über­set­zung le­sen. Mei­ne Au­gen sind auf ge­druck­te Tex­te trai­niert, und es dau­ert län­ger, bis ich mich von ei­ner vor­ge­ge­be­nen "Über­set­zung" lö­sen kann. Spra­che ist im­mer auch Mu­sik. 

Der Klang der ma­schi­nel­len "Lö­sungs­vor­ga­ben" be­ein­träch­tigt zu­sätz­lich mei­ne Ar­beit. Es ver­geht al­so mehr Zeit, bis ich pro­duk­tiv wer­de.

Wört­er und Pro­so­die er­ge­ben den Stil ei­nes Tex­tes. Beim Auf­pep­pen ei­ner see­len­lo­sen Vor­la­ge kann ich nicht wirk­lich krea­tiv ar­bei­ten. Mein Ge­hirn ist dar­auf trai­niert, schnell aus Ver­si­on A die Ver­si­on B zu ma­chen — nicht um­sonst bin ich seit über 30 Jah­ren Dol­met­scherin und Kul­tur­ver­mitt­le­rin.

Zeit­auf­wand und Er­go­no­mie

Die­ses Hin und Her beim Edi­tie­ren hin­dert mich dar­an, in ei­nen krea­ti­ven Flow zu kom­men. Ich ver­su­che, gleich­zei­tig auf meh­re­ren Ebe­nen zu ar­bei­ten und ver­lie­re da­bei oft den Ge­samt­text aus den Au­gen. Auch die KI über­trägt nur von Satz­an­fang zu Satz­en­de, was zu ei­ner dop­pel­ten Kurz­sich­tig­keit führt. Ich schaf­fe ma­xi­mal die Hälf­te in der vor­ge­ge­be­nen Zeit und bin am En­de wirk­lich er­schöpft. 

Ein sol­cher Auf­trag wä­re al­so ein mehr­fa­ches Pro­blem hin­sicht­lich Zeit­auf­wand, Er­go­no­mie und Ar­beits­zu­frie­den­heit. Soll­te ei­ne Kun­din dar­auf be­ste­hen, dass ich ma­schi­nell vor­ge­wähl­te Be­grif­fe ver­bes­se­re, müss­te ich mehr als das Dop­pel­te mei­nes nor­ma­len Prei­ses ver­lan­gen.

Ein­zel­ne Ma­schen statt kunst­vol­les Text­ge­flecht

Rich­tig übel wird es, wenn ich mir den Aus­gangs­text er­neut in Ru­he vor­neh­me und dem kul­tu­rel­len und sprach­li­chen Hin­ter­land nach­spü­re. Beim ver­ba­len Bal­ken­tur­nen (im­mer der vor­ge­ge­be­nen Li­nie ent­lang) bleibt zu viel auf der Stre­cke. Ich kann mei­ne Kom­pe­ten­zen beim "Edi­ting" von ma­schi­nell "Über­setz­tem" nicht voll ein­brin­gen, weil al­les an der Ober­flä­che bleibt. Ein Text ist eben mehr als die Sum­me sei­ner Wör­ter. 

Kurz ge­sagt: Es fühlt sich an, als wür­de ich mit an­ge­zo­ge­ner Hand­brem­se ein Au­to­ren­nen fah­ren. Ein pas­sen­de­res Bild, da ich kei­nen Füh­rer­schein ha­be: Es ist, als müss­te ein Renn­pferd mit ei­nem al­ten Holz­kum­met ei­nen Acker pflü­gen, da­bei wis­sen wir doch heu­te, dass wir weg­müs­sen vom Pflü­gen, hin zur Di­rekt­saat!

Nach­re­de

Auf mei­ne Kurz­fas­sung ant­wor­tet die Kun­din, dass sich die ma­schi­nel­le Über­set­zung gar nicht so schlecht le­sen wür­de. Es sei recht flüs­sig, man müs­se nur ein paar "Stop­per" aus­tau­schen, den gro­ßen Auf­wand se­he sie nicht. Ich schi­cke ihr ei­nen Ab­satz, den ich von Hand über­setzt ha­be, di­rekt da­vor das ma­schi­nel­le Er­geb­nis und er­klä­re in Kom­men­ta­ren hier und da mei­ne Wort­wahl. Die Kun­din wird nun mit der Fir­men­lei­tung Rück­sprache hal­ten. Drückt mir die Dau­men!

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Fo­to: Dall:e (Vorgaben: realistic, 3D,
french, painting, historic)

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