Sprung in der Platte, so fühle ich mich. Ich sitze im Café unweit meiner Wohnung und genieße den ersten Kaffee des Nachmittags, der das Suppenkoma mindern soll. Wir sitzen zusammen und unterhalten uns, ein Gemälderestaurator, eine Kindergärtnerin, ein angehender Heilpraktiker, eine Nachwuchsanwältin und ich. Wir diskutieren. Mein Kopf ist nicht so ganz dabei. Ich habe kalte Füße bis zu den Knien, kalte Hände bis zu den Schulterblättern. Mein Kopf flasht mich immer wieder kurz weg, ich sehe, höre, fühle etwas, das woanders stattfindet: Die Kälte kriecht uns durch die dicke Schutzkleidung, wir finden die alte Filmkamera nicht, die Gletscherspalte ist dunkel, selbst wenn über uns eine dicke Masse Pulverschnees liegt. Mein Kopf beamt sich zurück ins Café. Und dann wieder in die Gletscherspalte: Wir suchen nach der Kamera, es ist unten dunkel und oben hell und gleich suchen wir nach dem Ausgang.
Jedes Mal geht meine Bilderreihe ein winziges Stückchen weiter, aber irgendwie ist der Film hängengeblieben und setzt immer wieder (fast) an der gleichen Stelle an. So oder so ähnlich klang einst, als es noch Schallplattenspieler gab, ein Sprung im Vinyl.
Mein Sprung ist indes keiner in der Schüssel, sondern in der Eisplatte. Gemeinsam mit Bergbezwingern aus der Frühzeit des Bergsteigens stecke ich in der Gletscherspalte fest, von jähen Witterungsänderungen am Abstieg gehindert. Dann nippe ich wieder am heißen Kaffe, versuche mich auf die politische Diskussion des Jahres 2010 zu konzentrieren. Ich bin in Kreuzberg, Anfang Dezember 2010.
Die Überlagerung der Orte und Zeiten ist mein Alltag. Ich bin Dolmetscherin, lebe in Berlin und etliche Monate des Jahres auch in Paris, und wenn ich nicht irgendwo mein Mundwerk vermiete, also dolmetsche, gehe ich dem Handwerk der Übersetzerin nach. Wenn ich dann in der Übersetzung eines Drehbuchs abtauche, kommt es mir spätestens in den intensiven Phasen der Schlussredaktion so vor, als lebte ich in einem Paralleluniversum. Gestrandete Schiffe, nordafrikanische Fischer, die umsonst auf die seit Jahrhunderten sie ernährenden Fischschwärme warten und übers Mittelmeer zu fliehen versuchen, Bergsteiger vom Anfang des letzten Jahrhunderts, Eltern im Rosenkrieg an der französischen Atlantikküste oder ein Berliner Berufsschullehrer im Kampf für Bildungschancen der ihm Anvertrauten, nicht zu vergessen der Schweizer Hausmeister einer reichen Familie, der den Kopf verliert - ich teile den Alltag 'meiner' Filmhelden für die Zeit einer Übersetzung. Sie werden mir vertraut, ich leihe ihnen meine Worte und versuche, in ihre Haut zu schlüpfen, damit diese Worte nicht nach mir klingen.
Dabei lerne ich jedes Mal viele neue Worte. Eispickel gehörte zuvor garantiert nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Seilschaften auch nicht. Ich lese mich ein in diese Übersetzung für la cordée und merke dabei, dass mir das Wort in seiner originären Bedeutung völlig fremd war. Ich kannte nur des Wortes Bedeutung, wie es in Deutschland in Sachen Karriere und Marktchancen verwendet wird, über Vitamin B wie Beziehung und mit alten Seilschaften hat schon mancher die unliebsame Konkurrenz aus dem Weg geschafft.
Und während ich im warmen Café mein Heißgetränk genieße, müssen meine Helden länger frieren. Vite, vite!, zurück an den Schreibtisch, auf dass wir alle wieder ins Warme kommen! Ich bin die Seilschaft für meine Filmhelden, damit sie eines Tages das Licht der Filmprojektoren erblicken! Ja!
2 Kommentare:
Liebe Frau Elias,
im Rahmen meines Aufbaustudiums Dolmetschen/Japanisch bin ich zufaellig auf ihre Seite gestoßen. Ich wollte Ihnen auf diese Weise nur mitteilen, dass sie eine begeisterte Leserin dazugewonnen haben, die Ihre Berichte aus dem Alltag des Dolmetschers nun regelmaeßig verfolgen wird. Alles Gute fuer Sie und Ihre Arbeit!
Liebe Grueße,
Samantha
Danke! Dito!
C.
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