Samstag, 22. Dezember 2007

spielzeit'europa (10): Sprachgestöber

... und jetzt doch noch ein kleines P.S. zum Thema 'Einsprechen im Theater'. Während ich aus dem Fenster schaue, herrscht dort draußen nettestes Schneegestöber - und mein Kopf spielt weiter mit den Worten, macht 'Sprachgestöber' draus.
Es ist, als wollte, nachdem wir tagelang einer klar vorgezeichneten Linie, festen Repliken und Bildern folgen müssen, der Kopf ein Großteil der Fantasie nachholen, die wir beim Job als 'Theatererzähler' nicht einbringen konnten.
Dabei hatten wir auch jeweils einen kleinen Moment, in dem Boris und ich ICH sagen und ich meinen durften. Und das war so:

Vor unseren Augen gehen hunderte von Hände in die Luft, winken, ein ganzer Saal voll. Durch den Notfalllautsprecher, der den Saalton überträgt, hören wir Lachen bis in die Dolmetscherkabine. Jetzt höre ich mich sagen: "Schön, dass Sie uns hören, und wir sehen Sie, wir sitzen nämlich direkt hinter Ihnen!" Boris dreht geistesgegenwärtig den Dimmer des Deckenlichts auf, hinter der Glasscheibe werden wir für einen kurzen Augenblick für das Publikum sichtbar, viele drehen sich um, winken weiter. Es durchströmt mich warm: Für diese Menschen werden wir jetzt gleich ein Theaterstück auf Deutsch simultan einsprechen.


Berlin, Schaperstraße, wir sind im Haus der Berliner Festspiele beim Gastspiel von Fisbachs Version der "Wände" von Genet. Zu Beginn der Vorstellung tritt Edda vor das Publikum und erklärt, wie die Headsets der Dolmetschanlage funktionieren: "Wenn Sie jetzt auf Kanal 1 drücken, werden Sie von unseren Dolmetschern begrüßt!"
Es gibt Reklamationen, defekte Geräte werden ausgetauscht, die studentischen Mitarbeiter flitzen durch die Sitzreihen. Und wir müssen weitersprechen, Boris und ich, meubler le silence, die Stille ausfüllen, denn es suchen ja die ganze Zeit lang noch Menschen nach den Tasten für unsere Stimmen im Ohr ... Also beginnen wir ein Parlando: "Weißt Du eigentlich, Boris, dass das Stück "Les paravents" 1961 in Berlin uraufgeführt wurde?! ..." Und wir erzählen von Kürzungen der damaligen Berliner Fassung (aus Rücksicht auf die französische Besatzungsmacht) und davon, dass das Stück in Frankreich erst fünf Jahre später aufgeführt wurde, im Pariser Théâtre de l'Odéon, und dass es damals wütende Proteste gegen das Stück ausgelöst hatte und Demonstrationen, an denen auch ein rechtsgerichteter Student teilnahm, dessen Name erst später bekannt wurde, Jean Marie Le Pen. Und wie später André Malraux als Kulturminister im französischen Parlament die Tatsache verteidigen musste, dass das Odéon weiterhin Subventionen erhält, trotz solcher den Staat angreifenden Stücke. Es sei Kunst, soll er gesagt haben, und oft falle es Zeitgenossen schwer, Kunst als solche zu erkennen, dennoch müsse man sie finanziell unterstützen.

Wie aktuell das Ganze plötzlich wird! Ich sitze im Theater und freue mich auch über diese hinzugewonnene Sprachebene, weil ich anknüpfen kann an alte Radiotage als Journalistin und Sprecherin. Und dann geben wir uns dem Sprachgestöber hin mit ruhigen Stimmen, den fast hundert Figuren, den verschiedenen Sprachniveaus, den Einwürfen, Monologen, Widerworten, Provokationen, Anrufungen, dem Flehen und Greinen, Beschuldigen und Lästern, dem lüsternen Kommentar und dem kommentierenden Angriff ...
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P.S.: Ein Moment "Sprachmuseum": Das Wort, mit dem 

dieser Eintrag überschrieben ist - Sprachgestöber - liefert 
bei Google heute noch keinen einzigen Eintrag ...
Foto: C.E.

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