Berlin, Anfang Dezember, Straßenraum und Geschäfte sind nikolausrot und weihnachtsbaumgrün dekoriert, vier Uhr nachmittags ist es fast dunkel, Kunstlichtzeit. Im Büro fordert mich ein großer Text täglich neu heraus: Als Dolmetscherin übersetze ich gerade eine Studie aus meinem Spezialgebiet. Ich dolmetsche gerne, weil mir Livesituation und Kommunikation liegen. Übersetzen setzt eine andere Energie voraus - dieses Denken geht langsamer - und mehr Demut und Zurücktreten hinter den fremden Text.
Neben dem Feilen an Wort und Satz schreibe ich hier so regelmäßig wie nie zuvor, auch, um mich immer wieder vom Sprachmuster des Originals zu lösen (meine Sprachwaschmaschine!) Und wer oft auf anderer Leute Sprachspur folgt, kennt das Bedürfnis, was Eigenes zu erzählen.
Mitunter maile ich auch mit Kollegen, zu denen sich durch dieses 'Bordbuch aus der Dolmetscherkabine' Kontakte ergeben haben. Einer davon ist Tom Kraft aus München, Dolmetscher für Russisch und Philologe, der heute an der Uni unterrichtet. Er schrieb mir, dass er vor jedem Simultandolmetscheinsatz eine Woche brauche, um sein Gehirn zur Arbeit zu überreden.
Ich hatte Tom erst falsch verstanden. Die Dolmetscherei ist ja eine anormale Sache und die Menge der ausgeschütteten Stresshormone auch nicht ohne, also weiß ich, dass es manchmal aufwändig ist, sich zuzureden, dass alles in Ordnung geht mit der Adrenalindusche.
Tom schrieb, dass der Stress weniger das Problem sei, vielmehr das: "Normalerweise rede ich nicht, wenn ich zuhöre und verstumme oder frage nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Beides muss ich vor Simultaneinsätzen umkonditionieren, und muss eben reden, während der andere spricht, und weiterreden, wenn ich ins Schleudern komme."
Sprache ist das, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Sprache lernen wir als Babies, das Sprechvermögen sitzt tief. Also ist nur logisch, dass Dolmetschen vom eingeübten Verhalten abweicht, ja sogar dem zuwiderläuft, was wir jahrzehntelang trainiert haben. (Hm, lieber Tom, da fällt mir gerade ein, dass ich schon in der Schule gerne Nebenbeikommunikation betrieben habe und trotzdem meist wusste, was 'da vorne' los war ;-)
Tom weiter: "Außerdem (muss ich) schnelleren Text zu verdolmetschen suchen, als der eigene Takt wäre." Sind denn die Russen auch solche Schnellsprecher? Die lieben französischsprachigen Menschen stehen ja in diesem Ruf, leider regelmäßig durch Erfahrungen bestätigt. Das fordert Wachheit und Kondition heraus - und führt zu einer Anstrengung, die möglicherweise erst der nächste Redner mildert, denn, so Tom, "danach sind alle, die langsamer reden, kein Problem mehr, außer sie erzählen Sachen, die ich einfach gar nicht in meinem Wortschatz habe."
Heute interessiert sich der Münchener auch für Informatik und die Möglichkeiten automatischer Übersetzung. Ja, Rechner können bei vielen Wortschatzfragen mit Eindeutigkeit weiterhelfen, ansonsten ist Sprache per se mehrdeutig, und bis es den "Translator" gibt, ein würfelzuckergroßes Maschinchen, das sich letztens Sebastian nach einem Dolmetscheinsatz als unsere Konkurrenz in zehn Jahren ausmalte, wird noch viel mehr Zeit vergehen.
Würde ein Dolmetscher - oder eine Maschine - von einem mündlichen Gespräch nur die in der Ausgangsprache verwendeten Worte in die Zielsprache übertragen, wäre das Gesagte ins Unverständliche verfremdet. Denn wir übersetzen nicht den authentischen Wortlaut, sondern die Intentionen des anderen, den kulturellen Kontext und das, was mitschwingt bzw. was im jeweiligen Alltag nicht mehr gesagt werden muss, weil es selbstverständlich ist. Auch hier: der Kontext entscheidet. Das Wort "le régulateur" heißt bei der Schlossbesichtigung in Versailles "die Standuhr", hundert Meter weiter, im Centre de Congrès de Versailles, in einer medienrechtlichen Debatte, bedeutet es aber "die Regulierungsbehörde".
Und wir übertragen Bilder und Sichtweisen, von denen sich zu lösen für uns Sprachmittler nicht immer leicht ist. Ein Beispiel: wenn die Franzosen sagen, "mettre les pieds dans l'autre pays", klingt als (erweiterte) Übertragung "das andere Land mit eigenen Füßen betreten" erstmal verständlich. Erst beim Hin- und Herfriemeln fällt mir auf, was hier nicht stimmt. Hat schon mal jemand ein Land mit "fremden Füßen" betreten? Das Wort, das ich spontan eingeflochten hatte, ist Bestandteil einer stehenden Redewendung, und so komme ich auf: "das andere Land mit eigenen Augen sehen". Ein anderes Bild, das immerhin noch etwas von der Körperlichkeit der französischen Redewendung bewahrt.
So feile ich weiter, übe mich in Geduld. Der Rest ist Stimmungsdoping in weiß-grün-orange: der Schein der Tageslichtlampe, der unfermentierte Tee und die Duftlampe mit dem Apfelsinenaroma. Dezemberanfang in Berlin.
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