Sonntag, 16. Dezember 2007

spielzeit'europa (6): Wir kommen rein

Vis-à-vis vom Festspielhaus
Jour J moins deux" - 'Tag X minus zwei', so geht Countdown auf Französisch. Falsch, hier hat sich niemand um sechs Tage verrechnet, hier geht es ums Gastspiel von Genets "Les paravents" (Die Wände) im europäischen Theaterfestival "spielzeit'europa".
Seit Tagen üben Boris und Caroline an der deutschen Sprechfassung, die synchron zum Stück über Dolmetschtechnik dem Publikum zu Gehör gebracht wird. Hier der tägliche Bericht:

Spannend, wie Lernen geht. Sich einen Stoff vertraut machen in erster, sehr entspannter und spielerischer Groborientierung, dann Vorwissen aufrufen, an das wir anknüpfen können, dann systematisch von vorne nach hinten. Wiederholungen, Fortschritte und Rückfälle, als wolle "das System" Abstand holen, um besser zum Sprung anzusetzen. Wir üben, möglichst entspannt und beiläufig, dann nochmal konzentriert. Das Gehirn verspürt einen Lustgewinn am Wiedererkennen, am immer besseren Beherrschen, der 'flow' tritt ein. Und plötzlich "sitzt's"!

Wir fangen an, hinter den Worten das Stück zu erkennen. Bei den "Wänden" von Genet geht es um den Algerienkrieg. Das Stück, das damals einen Skandal ausgelöst hat, ist ein Schlachtengemälde, Genet liefert uns Einblicke in die verschiedensten Milieus, bildet Empfindungen und Vorurteile der damaligen Zeit poetisch überhöht ab, und vor allem roh, ausufernd, brutal, fast unaushaltbar gemein, dann wieder zärtlich, verspielt, karikaturhaft - und sehr, sehr lang. Seine Sprache ist direkt, archaisch, hart. Dann stehen da wieder Aphorismen, ungeschützt, mitten in einer Replik: " Wer sich an den Dingen vergreift, vergreift sich an der Sprache." Immer mehr wird mit klar, dass Heiner Müller ihn sehr gut gelesen haben muss. Beispiel: "M’HAMED: Ich hab das Herz rausgerissen… / KADIDJA: Leg’s hin! (Er zeichnet es und geht ab) / KADIDJA: Dieses Herz sieht alt aus! / M’HAME (geht zur Wand und zeichnet Dampfwolken um das Herz herum): Es dampft noch, Kadidja." (Ich denke da an Müllers "Herzstück" von 1981, das er in der Zeit schrieb, in der auch "Quartett" entstand.)

Wir lernen fürs Sprechen, das bedeutet, dass wir sicher am Ende Stellen fast auswendig können, aber immer mit dem Skript arbeiten, das gerade bei etwa 111 Seiten ist, Regisseur Fisbach kürzte die Szenen, wir kürzen etliche Repliken und viele Stellen um Regieanweisungen (der Lesbarkeit wegen).

Gestern kamen wir bis auf die letzten Bilder durch; alles, an dem wir seit Tagen üben, fließt und macht zunehmend Spaß. Schwierig sind die Partien mit vielen Einwürfen, raschen Wechseln und viel dramatischem Personal. Boris schlägt vor, diese Stellen immer von nur einem sprechen zu lassen. Da wir die Rollen aufteilen (96 Figuren!), sind ohnehin die meisten Rollen nicht unseren Stimmen zuzuordnen. Mit diesem dramaturgischen Eingriff wird das Ganze ruhiger, für beide Sprecher - und damit auch für die Hörer.

Und wie gehen wir mit sprachartistischen Momenten um wie dem Monolog des zu Tode Verurteilten, einem wilden Stakkato aus kurzsilbigen Worten? Erstmal die Übersetzung anpassen, denn Genet klingt hier in der Sprache von Hans-Joachim Ruckhäberle und Georg Holzer so, als hätte der Muttermörder viel Zeit und viel Luft zum Atmen. Dann werde ich versuchen, nicht synchron, sondern vermehrt in die Pausen hineinzusprechen und lieber knapper zu sein als das Original und damit Raum zu lassen für den Klang der französischen Stimme. Denn die klingt nach Strafkompanie, nach Gang zum Schafott, wie beinahe schon aus dem Jenseits.

Das (und viele Streichungen) kostet mich den halben Sonntagvormittag.

Ab dem Nachmittag sitzen wir im "Stellwerk", einem Teil der Regieräume des Theaters. Hinter der dicken Glasscheibe, vorne, auf der Bühne, agieren die Gäste aus Paris und Tokio, denn die Marionetten werden von japanischen Puppenspielmeistern geführt, dazu verkörpern drei Schauspieler einige Rollen des als „monströs“, fast unspielbar geltenden Werks. Einer der Schauspieler ist krank, weshalb der Regieassistent mit probiert. Wir sind nicht überrascht, es gibt viele Abbrüche und Neuanfänge; und wie's der Zufall will, sind sie in den Proben genau da, wo wir gestern auch aufgehört haben.
Im Theater bekommt allein durch das andere Umfeld unsere Arbeit neuen Schwung; wir hatten ihn bitter nötig, denn die Sache geht auf Konzentration und Kondition.

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Zeitaufwand per Mittag des 16.12: 31 Stunden.
Am Nachmittag und Abend: 5,5 Stunden Proben im Theater, dann noch zwei Stunden für Kürzen/Anpassen. Zeitaufwand insgesamt: 38,5 Stunden

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