Sonntag, 23. Februar 2025

Wahltag (II)

Was Dol­met­sche­rin­nen und Über­setze­rin­nen tag­ein, tag­aus be­schäf­tigt, wie wir ar­bei­ten, na­tür­lich auch Dol­met­scher und Über­set­zer, kön­nen Sie hier mit­le­sen. Ich be­ob­ach­te von Be­rufs we­gen un­se­re Zeit sehr ge­nau, denn ich muss ja im­stan­de sein, alle mög­li­chen Men­schen "zu ver­to­nen".

Hand an der Urne
Wahltag ist Zahltag
Heute ist Wahl­tag in Deutsch­land. Es ist keine Wahl wie die an­de­ren zu­vor. In den let­zten Re­gio­nal­wah­len im Os­ten des Lan­des ha­ben die Rechts­ex­tre­men enor­me Zu­wäch­se er­lebt. Ich weiß, wie sie spre­chen, was sie schrei­ben. Als Dol­met­sche­rin habe ich mich, als ich für Jour­na­lis­ten aus Frank­reich tätig wurde, län­ger da­mit be­fasst.
Ich kenne den Ost­en gut. Ich weiß, mit wel­cher Ar­ro­ganz und Ver­ach­tung nach 1990 viele aus dem West­en dort­hin ge­gan­gen sind, um schnell Kar­riere und Geld zu ma­chen. Garan­tiert nicht alle, aber zu viele. Men­schen, die im West­en eta­bliert und in so­zia­le Ge­füge ein­ge­bun­den wa­ren, blie­ben meistens im West­en — auch sol­che, die ur­sprüng­lich aus dem Ost­en stamm­ten. Das weiß ich aus ers­ter Hand: Mein Va­ter, in Sach­sen ge­bo­ren und von dort ver­grault, be­kam für die letz­ten fünf bis zehn Be­rufs­jahre eine in­te­res­san­te Stel­le in Sach­sen an­ge­boten. Meine Ge­schwis­ter wa­ren da­mals Teen­ager.

Er hat­te schon ein­mal mit­er­lebt, was es macht, wenn Teen­ager aus ih­rem an­ge­stamm­ten Um­feld ge­ris­sen wer­den. Das wol­lte er nicht wie­der­ho­len.

Ich kürze ab. Eine Ge­ne­ra­ti­on spä­ter ge­hö­ren die meis­ten Lie­gen­schaf­ten in der ehe­ma­li­gen DDR West­lern. Das hat meh­re­re Grün­de. Der West­en kauf­te, Steu­er­spar­mo­del­le lock­ten, Geld war an­ge­spart, der gut­do­tier­te Job, der ei­nen Kre­dit er­mög­lich hat, vor­han­den. Die an­de­ren West­ler sind zwar dort so­zi­a­li­sier­te Men­schen, die aber man­gels Per­spek­ti­ve über die Jah­re den Ost­en ver­las­sen ha­ben. 
Da­mals ka­men viele west­li­che Un­ter­neh­mer in den Ost­en, ich kürze wei­ter ab, ver­meint­lich mit viel Geld und bes­ten Ver­bin­dun­gen, in­ves­tier­ten viel­leicht so­gar, schlimms­ten­falls nur in ei­ne "Pin­sel­sa­nie­rung", trenn­ten Firma und Pa­ten­te von Grund und Bo­den, ver­kauf­ten wei­ter. Das Wort as­set strip­ping habe ich da­mals ge­lernt. Der Ost­en war an Köp­fen so klein, dass er mit der zu­vor un­ge­nutz­ten Pro­duk­ti­vi­täts­mar­ge spie­lend mit­ver­sorgt wer­den konn­te.

Eine Zeit­lang wur­den Ar­beits­plät­ze "ge­si­chert", die Fol­ge­kos­ten trägt die All­ge­mein­heit bis heu­te. Ich ver­ein­fa­che. Aber die­ses Sche­ma wurde zu oft an­ge­wandt, als dass es nicht die Be­fin­d­lich­keit ge­prägt hät­te. Gu­te Pro­jek­te, Kauf und Über­nah­me durch die Be­legschaft, In­ves­ti­tio­nen in Neu­es, ech­ter Auf­bau Ost, wird vor dem Hin­ter­grund als Aus­nah­me wahr­ge­nom­men. Lei­der gibt es auch im West­en viele, die um ih­re so­zia­le La­ge, ih­ren klei­nen Wohl­stand und die (bit­ter nö­ti­gen) Re­for­men be­sorgt sind und be­fin­den: Es soll al­les wie­der so wer­den, wie es "früh­er" mal war.

Und al­so jetzt die "Ra­che" der klei­nen Leu­te, die mit dem Fuß auf­stamp­fen und je­nen ih­re Stim­me schen­ken, die ih­nen ein neu­es Selbst­be­wusst­sein ge­ben und gro­ße Ver­spre­chung­en ma­chen. Ich habe die Pros­pek­te selbst ge­se­hen – was da ge­druckt steht, wider­spricht zu 90 Pro­zent dem Par­tei­pro­gramm. (Wä­re künf­tig nicht auch hier an­zu­set­zen? Wahl­wer­bung muss mit dem Pro­gramm über­ei­nstim­men. Wahl­dis­kus­si­onen wer­den vor­auf­ge­zeich­net, die Fak­ten­check­er ma­chen sich so­fort an die Ar­beit und sen­den leicht zeit­ver­setzt mit Un­ter­ti­teln bzw. kur­zen Erklär­fil­men, die ein­ge­blen­det werden. Dann müs­sten sich alle Par­tei­en am Rie­men reißen.)

Dass weder die Ost­zeit noch die Wen­de­jah­re nicht gut auf­ge­ar­bei­tet wur­den, ist der Boom­e­rang, der uns heu­te ein­holt. Vie­le Ost-West­ler, In­tel­lek­tu­el­le und Psy­cho­lo­gen ha­ben ge­warnt. (Auch ich ha­be ver­sucht, mei­ne Er­fah­run­gen als WOs­si mit ein­zu­brin­gen. Aber wer glaubt in die­sem Land jen­seits von Fra­gen der Mo­de schon jun­gen Leu­ten?)

Be­find­lich­kei­ten spie­len ei­ne gro­ße Rol­le in Deutsch­land, au­ßer­dem Res­sen­ti­ments, die schwe­rer wie­gen als Fak­ten.

Politi­sche Bil­dung bei Er­wach­se­nen und bei Men­schen, die oh­ne gro­ße Be­rufs­per­spek­tiv­en in struk­tu­rell ver­nach­läs­s­ti­ge Ge­gen­den hin­ein­ge­bo­ren wur­den, ist schwer zu ma­chen, zumal die­se Leu­te auf­grund ih­rer Er­fah­rung im­mer gleich "In­do­k­trination" mut­ma­ßen, wenn man ih­nen an­de­re Per­spek­ti­ven auf­zeigt. Hier ging es von An­fang an um die oft lang nicht ge­mach­ten Er­fah­run­gen mit Men­schen aus an­de­ren Län­dern, was Fre­m­den­feind­lich­keit wach­sen ließ. (… be­son­ders ho­he Ab­leh­nungs­wer­te ha­ben Re­gio­nen, in de­nen fast nie­mand oder kei­ner zu­ge­zo­gen ist.) Die­ses Misstrauen ge­gen­über dem An­der­sein hat sich rasch aus­ge­wei­tet. Es fo­kus­siert sich in­zwi­schen auf an­de­re Welt­an­schau­un­gen oder Ori­en­tie­run­gen, auf ei­ne ge­wis­se Welt­läu­fig­keit, auf an­de­re Le­bens­wei­sen und Ein­flüs­se.

Aus Miss­trauen wur­de Angst, aus Angst Wut, aus Wut Hass. Das Gan­ze ist und bleibt mit ei­ner gro­ßen Por­tion Selbst­mit­leid grun­diert. Ge­füh­le sind leicht zu ma­ni­pu­lie­ren, und der ver­dräng­te kol­lek­ti­ve Min­der­wertig­keits­kom­plex wird um­ge­dreht und als spit­ze Pfei­le nach au­ßen gerichtet.

Dann sind plötz­lich Schick­sa­le "selbst ge­macht" und "ver­dient". In den USA hat sich, so schaut es in­zwi­schen aus, ein eben­falls emo­tions­ge­stör­ter, ver­ur­teil­ter Ma­fio­si mit IT-Un­ter­stüt­zung an die Macht ge­putscht. Er ak­zep­tiert die Ge­wal­tent­ei­lung zwar nicht, hat aber schon per Ge­setz vor­ge­sorgt, dass die USA-Wäh­ler­schaft so bald kein zwei­tes Mal an die Wahl­ur­nen ge­ru­fen wird. Und was höre ich von so ei­ner de­pri­vier­ten Ost­see­le? Sät­ze wie: "Da sind die Amis selbst dran schuld, hät­ten sie mal nicht Jahr­zehn­te­lang die Welt mit ih­rem Im­pe­ri­al­is­mus und ih­ren Krie­gen über­zo­gen." (Da scheint so­gar noch der ML-Un­ter­richt durch.)

Ähn­liche Kom­men­ta­re gibt es zur Ukrai­ne und zu Is­ra­el. De­tails er­s­pa­re ich uns jetzt hier.

Die Ki­ste ist ver­fah­ren. Mir ma­chen da in­zwi­schen auch bür­ger­li­che Po­litiker Angst, die selbst het­zen, denn wenn sie in die­ses Wut­horn bla­sen, ver­bar­ri­ka­die­ren sie aus Wahl­kal­kül für län­ger den Weg der emo­tio­na­len Auf­ar­bei­tung – die na­tür­lich auch mit kol­lek­ti­ven, ma­teri­ellen Ent­schei­dun­gen ver­bun­den sein muss. Milli­ar­dä­re tun de­mo­k­ra­ti­schen Ge­sell­schaf­ten nicht gut, auch zu ho­he Mi­lio­nen­ver­mö­gen sind schon kon­trapro­duk­tiv. Al­lein die Tat­sa­che, dass keine Sta­tis­tik mehr über die Rei­chen und Ul­tra­rei­chen ge­führt wird, seit un­ter Hel­mut Kohl die Ver­mö­gens­steu­er ab­ge­schafft wurde, ist mit de­mo­k­ra­ti­schen Grund­sät­zen nicht ver­einbar.

"Vom Te­ller­wä­scher zum Mil­lio­när" war mal ein ame­rika­ni­sches Ver­spre­chen, das dort auf­grund der schie­ren Be­völ­ke­rungs­grö­ße bei zün­den­den Ide­en manch­mal noch auf­geht ist. Bei uns, im klei­n­tei­ligen, kul­tur­di­ver­sen Eu­ro­pa, sieht es an­ders aus. Wir müs­sen bei uns an­fan­gen. Wir brau­chen ei­nen neu­en Ge­sell­schafts- und Ge­ne­ra­ti­ons­ver­trag. Un­klar, wann wir so weit sind.

Jetzt droht ers­t­mals ein ab­so­lu­tis­ti­scher Tech-Feu­da­lis­mus mit or­well­schen Kon­troll­me­ch­a­nis­men, ge­steu­ert aus Über­see.

Was der­zeit in den USA statt­fi­ndet sind so gra­vie­rend wie das deut­sche 1989. Da­mals ha­be ich al­les in ei­ner Art schlaf­wan­de­ri­schem Tau­mel er­lebt, da­bei mit ständi­ger Angst vor den let­zte­n Schlä­gen der Sta­si. Heute ist Wahl­tag. Mir sitzt ein Kloß im Hals. Un­gut für ei­ne Dol­met­sche­rin.

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Illustration: pixlr.com (Zufallsfund)

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