Dienstag, 18. Februar 2025

Leben im Wartestand

Hal­lo! Sie ha­ben zu­fäl­lig oder ab­sicht­lich ei­ne Sei­te mei­nes di­gi­ta­len Ar­beits­ta­ge­buchs auf­ge­schla­gen. Ich bin Dol­met­sche­rin und Über­set­ze­rin für Po­li­tik, Wirt­schaft und Land­wirt­schaft, Me­dien, So­zia­les und Kul­tur. Der­zeit bin ich auf der Ber­li­na­le un­ter­wegs und wun­de­re mich mal wie­der.

dorisch, ionisch, korinthisch
Säulenordnung mit Lerntipp
Lu­xus­ho­tels sind Nicht­or­te, Film­ku­lis­sen oh­ne Dreh­buch. Ich war­te, mein Blick schweift ab. Do­ri­sche, io­ni­sche und ko­rin­thi­sche Ka­pi­tel­le wur­den hier wild auf Säu­len aus Be­ton­guss ver­klebt, als hät­te ein Bau­herr zu tief in den Mus­ter­ka­ta­log ge­schaut.

Den Fuß­bo­den müs­sen sie in den letz­ten Jah­ren er­neuert ha­ben. Die Säu­le da­run­ter wur­de im Fuß­bo­den­be­reich ei­nige Zen­ti­me­ter tief ein­ge­schnit­ten und hängt in der Luft. Das Gan­ze wirkt wie ein Sym­bol der La­ge: Viel De­ko, viel Schein, aber an Stand­fes­tig­keit man­gelt's. Was nach Kul­tur aus­sieht, ist ren­di­te­op­ti­mier­ter Bil­lig­bau mit zu viel dran­ge­klatsch­tem Or­na­ment.

Kultur zur Um­satz­stei­ge­rung
Ich ver­sen­ke meine Nase in meine Un­ter­la­gen: Sich­tungs­no­ti­zen, Re­cher­chen zum Film­team, Vo­ka­beln, Pro­duk­tions­hin­ter­grü­nde, po­li­ti­sche As­pek­te und Kon­flik­te.

Zwei Kell­ner be­we­gen sich ma­xi­mal­ver­huscht durch die Gän­ge, ba­lan­cie­ren Ta­bletts auf den Ar­men, die Sil­ber­löf­fel klir­ren lei­se an zar­tem Por­zel­lan, je­de Be­we­gung sitzt.

Es riecht nach Par­füm. Über al­lem liegt ein gleich­för­mi­ger Klang aus klas­sisch an­mu­ten­den Tonfolgen, die sich nicht auf­drängen, nicht exis­tieren, aber doch prä­sent sind. Mu­sak heißt die­ser Sound­track von Ho­tel­lob­bys, Fahr­stüh­len und Kauf­häu­sern, gro­ße Be­lie­big­keit, in No­ten ge­gos­sen.

Millimeterarbeit
Ne­ben mir der Tee­wa­gen, da­rauf Pe­tit fours und Schnitt­chen, pas­send zum Am­bi­en­te – klein, mil­li­me­ter­ge­nau ka­riert, wie aus ei­nem Ku­li­na­rik-Stock­fo­to. Den Kell­nern und den Bäckern füh­le ich mich ge­ra­de am nächs­ten, reelles Handwerk. Ich war­te auf die Gäs­te. TV-Leu­te, für die wich­tig ist, dass je­des Wort sitzt. Sie ar­bei­ten für die News, al­les eilt.

Drin­nen war­tet der Film­star, der gleich in­ter­viewt wer­den wird. Die Pres­se­da­me ist nicht auf­ge­taucht. Ich bin ge­spannt, ob die Fra­gen der TV-Leu­te über­ra­schend sind oder das Pres­se­haft spie­geln. Ich ken­ne den ro­ten Fa­den lei­der nicht, ob­wohl ich im Vor­feld freund­lich da­rum ge­be­ten hat­te.

Ber­li­na­le im Wan­del
Das Team ver­spä­tet sich. Die Ber­li­na­le war ein­mal ein Ort, an dem vie­le Spra­chen auf der Büh­ne ge­spro­chen wor­den sind, aber auch bei den Pres­se­ter­mi­nen, bei der Kul­tu­ren und Un­ter­schie­de selbst­ver­ständ­lich ih­ren Raum hat­ten. Das galt als un­ver­meid­lich, war schön, manch­mal ein we­nig chao­tisch. Heu­te er­lebe ich einen Rest da­von.

Denn meis­tens wird in­zwi­schen ver­ein­facht und ver­flacht. Fast al­le Ge­sprä­che fin­den in­zwi­schen auf sim­pli­fied Eng­lish statt – was zunächst in­ter­na­tio­nal klingt, zer­stört in der Pra­xis aber die Kom­ple­xi­tät. Fra­gen sind ver­schlich­tet, Ant­wor­ten kür­zer, die Ge­sprä­che ver­lie­ren an Tie­fe. Es betei­li­gen sich auch nicht mehr so vie­le Men­schen wie früher. Groß­ar­ti­ge Fra­gen stel­len noch ei­ni­ge Mut­ter­sprach­ler (oder Leu­te, die so klin­gen) – aber es sind we­ni­ger ge­wor­den. Die Zu­rück­hal­tung vie­ler, die ihre ei­ge­nen Sprach­kennt­nis­se als un­zu­rei­chend ein­stu­fen, ist nach­voll­zieh­bar.

Ich er­le­be das je­des Jahr aufs Neue. Die Q&A-Run­den nach den Fil­men sind kür­zer, sie fin­den nach den Wie­der­ho­lun­gen nicht mehr sys­te­ma­tisch statt. Es ist, als hät­te nie­mand aus der Pan­de­mie ge­lernt: Live und vor Ort er­öff­net ein Fes­ti­val Ge­le­gen­hei­ten, die di­gi­ta­le Kom­mu­ni­ka­tion ein­fach nicht bie­ten kann.

So­lan­ge sich zu wenige be­schweren, läuft das mun­ter so wei­ter; die Hin­wei­se Ein­zel­ner wer­den mun­ter weg­ge­lä­chelt. 

Qua­li­tät, die nie­mand will
Die ein­zi­gen, die sich heu­te für Exakt­heit in­ter­es­sie­ren, sind eben die TV-Leu­te und et­li­che an­de­re Jour­na­lis­ten. Sie brau­chen kla­re In­fos, ein­deu­ti­ge Über­set­zun­gen, Zäh­ler­stän­de (Time­codes). Das Team heute hat kaum Zeit für den Schnitt, vor Ort wird das Ge­dreh­te gleich aus­ge­wer­tet, ich darf unter­stüt­zen.

Heute ist auch wieder ein guter Ho­no­rar­tag. In Zei­ten der geo­po­li­ti­schen Kon­flik­te, der neuen Prio­ri­tä­ten und des Macht­va­ku­ums, das uns das vor­zei­ti­ge En­de der Koa­li­tion be­schie­den hat, herrscht har­ter Kon­kur­renz­kampf um die we­ni­gen Dol­metsch­ein­sät­ze. Die Ho­no­ra­re wur­den ge­drückt, die Kund­schaft nutzt un­se­re Not aus, und ja, auch da schrum­pfen Bud­gets, und "Neh­men Sie das bit­te nicht per­sön­lich!" ...

Grund­sätz­lich in War­te­hal­tung
Jen­seits der Ber­li­na­le schei­nen vie­le Pro­gram­me, für die wir sonst dol­met­schen, ein­ge­fro­ren zu sein, bis es wie­der neu­e Fach­mi­nis­ter und -mi­nis­te­rin­nen gibt. Al­most every­thing is on hold.

Dass an dem Gan­zen Men­schen hän­gen, die da­von le­ben, scheint ähn­lich wie in der Pan­de­miezeit, in der wir So­lo-Selb­stän­di­gen über­wie­gend von Luft und Lie­be (und den Rück­lagen fürs Al­ter) le­ben durf­ten, kaum zu in­te­res­sie­ren.

Alles chic, von au­ßen be­trach­tet
Was sicht­bar ist: Gro­ße Na­men, ro­ter Tep­pich, zu dün­ne Kleid­chen fürs Win­ter­wet­ter, Ka­me­ras, Licht. Was nicht sicht­bar ist: Die Sub­stanz brö­ckelt. In alt­mo­di­schen Be­grif­fen: Das Kul­tur­ver­stän­dnis ist im Kern an­ge­grif­fen, wie die­se Säu­le, die hier vor mei­nen Augen in der Luft schwebt.

Was ich oben schrieb, gilt für die Pub­li­kums­ge­sprä­che nach den Fil­men. In­zwi­schen greift das „Wir ma­chen al­les auf EN und brau­chen kei­ne Pro­fis mehr“-Prin­zip an ei­ni­gen Stel­len lei­der auch auf die Pres­se­ar­beit über, be­son­ders bei den jun­gen Pres­se­leu­ten. Ich hoffe, sie ler­nen in der Pra­xis hinzu!

Und jetzt? Neue Chan­cen ...
Was macht das mit mir? Ich bin un­ge­dul­dig und warte nicht gerne. Ab und zu scrol­le ich zu­hau­se oder im Zug durch Stel­len­an­zei­gen. Ei­ne hal­be Stel­le wä­re ide­al. Ich muss fle­xi­bel sein, An­ge­hö­ri­gen­pfle­ge lässt sich nicht im­mer pla­nen.

Ich ha­be mir mei­ne Kund­schaft schon be­wusst weit ge­streut aus­ge­sucht: Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit, Kul­tur, Bil­dungs­rei­sen, Agrar-Öko­lo­gie, Ur­ba­nis­mus, Di­plo­ma­tie. Und doch wächst die Furcht, dass die­se The­men bald als "Schön­wet­ter­lu­xus" de­fi­niert zu­sam­men­ge­stri­chen wer­den könn­te, Kri­se und Po­pu­lis­mus haben Fol­gen. (Ich be­ob­ach­te, was in den USA pas­siert.)

Die Furcht ist das ei­ne. Zum Glück ha­be ich viel ge­lernt, stu­diert und ei­ne brei­te Be­rufs­er­fah­rung. Ich müss­te ver­schie­de­ne Op­tio­nen ha­ben. Bald ge­he ich zur Be­rufs­be­ra­tung. Ich füh­le mich zwi­schen­durch wie mit zar­ten 17 Len­zen. Ich bin neu­gie­rig und of­fen und hof­fe, dass die­se deut­sche Men­ta­li­tät, dass die Be­wer­be­rin zu 100 Pro­zent 'pass­ge­nau' sein muss, end­lich pas­sé ist. Wir ha­ben Fach­kräf­te­man­gel. Das Wort "über­qua­li­fi­ziert" möch­te ich nie wie­der hö­ren.

Kalt­start, wie oft
Ich bli­cke er­neut auf die Uhr. Dann wieder auf den Gang zum Fahr­stuhl. End­lich kommt das TV-Team mit sei­ner gan­zen Tech­nik an­ge­schleift, leicht au­ßer Atem. Das In­ter­view geht in we­ni­gen Mi­nu­ten los. Drei, vier Wor­te mit dem Re­dak­teur ge­wech­selt, dann los! Kein Pro­blem. Kalt­start kann ich.

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Foto: Lehr­buch­sei­te (mit Mne­mo­trick)

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