Hello, guten Tag, bonjour ... beim Dolmetscherblog aus Berlin, dem ersten virtuellen Arbeitstagebuch Deutschlands über Dolmetschen und Übersetzen aus dem Inneren der Kabine (bzw. vom Übersetzerschreibtisch). Hier denke ich über unseren Berufsalltag und seine Veränderungen nach.
Derzeit grassiert eine üble Krankheit in der Welt der Spracharbeiterinnen und Spracharbeiter. Irgendwo muss ein Existenzgründungsberater auf die Idee mit dem Vermitteln von Dolmetschern oder Übersetzern gekommen sein. Er oder sie, vielleicht Angestellte(r) einer Investitionsbank, sah die für ihn oder sie vergleichsweise hohen Stundensätze von unsereinem, dachte sich kurz: "Da ist noch Luft drin!" ... und empfiehlt seither hungrigen, aggressiven Computernerds "in Sprache zu machen".
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So ähnlich wirbt die "Konkurrenz" |
Und das soll dann so gehen: Schickes Design auswählen, Fotos schöner Menschen irgendwelchen Fotoagenturen abkaufen (wahlweise hübsch gestaffelt alle Hautfarben dieser Welt), Text von der Konkurrenz abkupfern, ändern und durch eine eigene Idee aufpeppen, die vielleicht ganz originell ist, Visitenkarte, Flyer usw. gestalten und an den Drucker weiterleiten.
Und wenn Büroausstattung und Webseite fertig sind, hier noch kleine Trickfilmchen, da noch gezeichnete Figuren in Auftrag geben, alsdann oder zuvor Gründungszuschuss und/oder Venture Capital
|einloben| abgreifen (eine Firma habe neulich sogar 100 T€ von privaten Anlegern übers Internet eingesammelt, wie sie online stolz berichtet), bei
Mister Google Werbung einkaufen ... fertig!
Denn alle diese Leute, die Berater, Nerds, Zuschussgeber und Investoren, scheinen offenbar der Meinung zu sein, dass wir Spracharbeiter zu viel verdienen würden. Von diesen stattlichen Honoraren ließen sich ihrer Meinung nach gut und gerne mal eben 35, 50 oder sogar 60 % abzwacken, und wenn nur ausreichend viele dieser "Agenturen" den Markt dominieren, auch wenn es am Anfang vielleicht schwierig sein könnte, gute Leute zu finden, mit der Zeit werden die renitenten Freiberufler und Einzelkämpfer schon einknicken. Dann noch schnell ein paar fiese (im Zweifelsfall illegale Exklusivitätsklauseln) in den Vertrag gepinselt und ab geht die Luzie.
Einschub, Stichwort "Honorarhöhe": Unsereiner hat nicht unter vier Jahre studiert, gerne eher sechs oder sieben (wegen der nötigen langen Auslandsaufenthalte, Zweitstudien vor Ort), auch sonst viel Zeit in diversen Ländern zugebracht, hat oft nur einen oder zwei, in seltenen Fällen drei Honorartage die Woche und dies ca. auf der Basis von neun Monaten im Jahr, unsereiner versichert, versteuert, verwaltet selbst ... und ist verglichen mit Anwälten, die einen ähnlich langen, unproduktiven Vorlauf und verglichen mit den (sichtbaren) Gerichtsterminen ähnlich viele Recherche-/Lese-/Schreibzeiten haben, spottbillig.
Sorry für den langen Satz. Einschubende.
Wenn die also eben erwähnten "Existenzgründer"
|Pech haben| nicht ganz so helle in der Birne sind und den digitalen Übersetzungsmaschinen des weltweiten Netzes mehr Vertrauen schenken als uns Dolmetschern, wo sie uns als Quell baldigen Reichtums doch lieben, liest sich ihre Webseite dann so: "Wir haben auch akademische Forscher, Fachmänner und Lautsprecher, die alle Muttersprachler von mehr als 50 Sprachen sind." (Zur Strafe gibt's dann vielleicht weniger
venture capital.)
Wenn aber wir Sprachmenschen Pech haben, lesen sich manche "Agentur"webseiten aber richtig klasse, was dann leider oft prompt allerlei Medien finden, die über neue
start ups berichten, deren Logos anschließend als
|Kunden| Multiplikatoren am Rand der Webseite prangen. (Wer passt schon so genau auf, worin der Unterschied besteht ...)
Die Fixkosten sind vor allem im ersten beschriebenen Fall gering. Es gibt aber auch Großagenturen, die so auftreten, als würden sie weltweit operieren, vielleicht tun sie das sogar, die haben in jeder größeren Stadt eine Adresse, die was hermacht ... und bieten nebenbei noch Dienstleistungen wie
Marketing, Sprachunterricht oder
Handelskontakte an. Diese Großagenturen werden in der Regel nicht von erfahrenen Konferenzdolmetschern, sondern von Unternehmern geführt ... oder von Leuten, die zuvor irgendwie auch mit Sprache zu tun hatten: vom Exportchef oder der früheren Fremdsprachenkorrespondentin über den einstigen
Call center-Agent bis hin zur Altenpflegerin sind das Leute, die "etwas mit Menschen" gemacht haben und denen rund um die Uhr, modern "24h, 7/7", nicht fremd ist. Das steht dann gerne auf der Webseite mit drauf, direkt neben "alle Sprachen".
Und wo sich der oder die Gründer oder Sprachunternehmer ohnehin nicht mit anstrengenden, zeitraubenden Spracharbeiten das Konzept verhageln lassen, haben sie viel Zeit für klassisches Marketing oder Ehrenamt im Problemkiez oder die Teilnahme an Benefizgalas wie ein Kölner Unternehmer (oder ist es eine Dame?), der Dolmetschen und Übersetzen sogar schon als Marke anbietet, per "Franchising" exportiert, man ist ja ein
World-Unternehmen. Naja, und etliche Medienvertreter springen wieder nach dem Stöckchen.
Wie sich das für uns auswirkt? Fies. Neulich erhielt ich von einer Agentur eine Anfrage, Termin und Inhalt kannte ich gut, es war der turnusmäßige Termin eines unserer Stammkunden, das ging aus der anonymisierten Beschreibung einwandfrei hervor, wir kennen uns seit Jahren. (Neuer Chef im mittleren Management, er ist am Gewinn beteiligt.) Tja, und die Mitarbeiterin der Agentur hat mir 50 % dessen angeboten, was ich letztes Jahr meinem Kunden in Rechnung stellen durfte. Der "Vertrag", den ich mir aus Gründen der Neugierde vorab zuschicken ließ, beinhaltete die Klausel, dass ich nicht mehr für den Auftraggeber als Direktkunden würde arbeiten dürfen, allerdings ohne Zieldatum, also gleich für immer und ewig. Auf der Webseite der "Agentur" wurde damals mit Preisnachlass für Erstkunden geworben. Ich stampfte die Anfrage in den Papierkorb.
Zweiter Exkurs. Vor einigen Jahren haben wir mal bei so einer Großagentur "ja" gesagt, es war ein Sommerlochjob zu einem Thema, das zu unseren Fachgebieten gehört, also mit minimalem Vorbereitungsaufwand machbar. Nach der Mittagspause saß in der Spanischkabine eine Berufsanfängerin und kämpfte schwer mit den Tränen. Sie habe bei der Buchung doch gesagt, dass ihr aktives Deutsch noch nicht so gut sei und dass sie nur ins Spanische dolmetschen wolle. Jetzt sei ihr zweiter Kollege, der wie sie nur für einen halben Tag gebucht war und ins Deutsche dolmetschen sollte, einfach nicht erschienen: "Der hat wohl kurzfristig einen besser dotierten Job gefunden!" Bei Übersetzungen ist das zum Teil noch krasser mit Motivation und Preisverfall und nur deshalb möglich, weil diejenigen, die den Job am Ende machen, wie
Call Center möglicherweise in Fernost sitzen. Viele Bedienungsanleitungen lesen sich ja so.
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Schauspielernagenturen, die mehr als 20 % des Honorars für ihre Dienste nehmen, gelten als unseriös. Normal sind 10-15 % |
Kurz: Da wird von mancher "Agentur" mal eben hurtig zusammengebucht, was verfügbar erscheint, und niemand kennt niemanden persönlich ... auch nicht die Stärken und Grenzen derjenigen, die den Job am Ende machen sollen. Was nicht heißen soll, dass alle Agenturen so arbeiten, bewahre! Es gibt bestimmt irgendwo gute Agenturen, sicher, ja, klar doch, hab ich schon mal gehört.
Also, Rücksprung zum Kernthema, jetzt werden wir praktisch. Wenn Sie sichergehen wollen, von Leuten beraten zu werden, die sich auskennen und die Sprachmittler nur deshalb weiterempfehlen, weil sie ihre Arbeit als Kollegen aus eigener
|Anschauung| Anhörung kennen und die zudem kollegial mit den Honoraren umgehen, weil er oder sie selbst als Dolmetscher/in in der Kabine sitzen, dann beauftragen Sie doch einfach jemand, der einem Dolmetscher
netzwerk angehört. Auch, wenn diese locker verbandelten Einzelkämpfer ohne Renommieradresse und großes Sekretariat nur zu Bürozeiten leicht erreichbar sind (oder sonst vielleicht mit
Kindergeplapper im Hintergrund) und nachts ihren Schlaf brauchen ... eben weil sie Spracharbeiter sind.
Mit der Agenturitis ist es hoffentlich wie mit anderen ansteckenden Krankheiten: Sie grassiert eine Zeitlang, dann ist mal zwischendurch das System K.O. und dann stellt sich in aller Regel wieder Gesundheit ein ... mit Antikörpern gegen besagte Erreger.
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Foto und Montage: C.E.