Dienstag, 30. August 2011

Balkonien ...

... gilt als Urlaubsziel für Menschen, die sich keinen Fernurlaub leisten können. Nun liegt aber mein Büro sehr oft in Balkonien, und nicht nur meins.

An der Längsseite, die Schmalseite hier
Kurz nach dem Frühstück klingelt das Telefon, eine Bürostimme sagt: "Ach, Sie sind wohl im Grünen, wie schön!" Ich versuche, keinen Neid entstehen zu lassen, und spreche von der Mieterin im Stockwerk über uns und ihren sintflutartigen Wassermengen zu den schrägsten Uhrzeiten, die sie zur Bewässerung diverser Blumen aufbietet, was dazu führt, dass ich jedes Mal, wenn ich auch nur kurz reingehe, lieber präventiv sämtliche Technik und alles Papier einsammle und sowieso nicht direkt an der Brüstung sitzen kann. (Immerhin erspart mit das, wie dieser mehrheitlich nasskalte Sommer überhaupt, oft das Blumengießen.)

Dann telefoniere ich weiter in Sachen Übersetzungsarbeit, wir müssen uns koordinieren. Kollege B. sitzt hörbar auch im Grünen, wir feixen gemeinsam über die beruhigendem Nebenwirkungen unseres Freiberuflerdaseins.

Während ich kurz drauf vergnügt in den sonnigen Himmel blinzele, höre ich jemanden Französisch sprechen. Journalist Sébastien Vannier spricht vom Ohr mit Radarfunktion, das man als Mensch zwischen zwei Sprachen in zwei Ländern entwickele, mir geht es auch so. Ganz |augenscheinlich| offensichtlich ("ohrenhörlich") habe ich neue französische Nachbarn, was langsam in meinem Kiez auf angenehme Weise um sich greift: Er wird internationaler und er verjüngt sich. (Wobei die wahrgenommene Verjüngung durch die Tatsache verstärkt wird, dass ich älter werde.)

Eindeutig ist: Die ganz alten Herrschaften im Wohnviertel, Nachbarn aus der unteren Mittelschicht, ziehen oder sterben weg; neue Mieter der unteren Mittelschicht folgen ihnen nach, wobei nicht nur mir auffällt, dass diese in der Regel über deutlich höhere Bildungsabschlüsse verfügen als die Generation der gleichen Schicht davor. (Kurz: Studium zahlt sich aus, aber mehr in Sachen Sicherheit, eine vielleicht sogar auch noch sinnvolle Beschäftigung zu finden, als in Höhe von Lohn, Gehalt oder Honorar.)

Und während ich über die "Yukis" sinniere — es sind die young urban kreative internationals, die herziehen, nicht die young urban professionals ("Yuppies")  — und einige welke Blättchen von den Topfpflanzen zupfe, bin ich sehr froh über meinen Balkon mit Wasserblick. Wie viel schöner ist es hier draußen als drinnen! In der Wohnung könnte ich außerdem auf garstige Ideen kommen, zum Beispiel den Milchtopf vom Frühstück abzutrocknen, der im Gestell über der Spüle vor sich hintrocknet, damit der Kalk nicht diese hässlichen Flecken hinterlässt, ach, und das Spülmaschinensieb sollte ich auch mal wieder reinigen. Und überhaupt, wie sehen die Küchenfenster aus? Vom denen im Arbeitszimmer ganz zu schweigen.

Nein, meinen Büroplatz in der Sommersaison lob' ich mir, auch, wenn er reine Büromenschen manchmal etwas neidisch macht. — Und nun scheint das auch schon wieder vorbei zu sein. Die situative Beschreibung meiner Idylle textete ich Freitag, da erwies sich mein Nordbalkon bei subtropischen Graden und einer ähnlich hohen Luftfeuchtigkeit (auch ohne Regenzeit von oben) als wunderbar.
Seit dem Samstag brauche ich schon wieder Socken, Pulswärmer und einen dicken Pulli ...


P.S.: Für die neueren Leser: Ein anderes Balkonien, das vieler französischer Hauptstädter, sah ich vor kurzem, und auch dort waren viele anzutreffen, die zwar auf den ersten Blick in der Idylle am Sandstrand saßen, in Wirklichkeit aber mitten im Büro ...
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Foto: C.E.

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