Dienstag, 7. Juni 2011

1. Person Singular

Auf der Bühne steht einer, der überträgt. Oder vielmehr: er übersetzt gesprochene Sprache in gesprochene Sprache. Richtig, das Verb müsste eigentlich "dolmetschen" heißen. Trotzdem kann ich das nicht so einfach schreiben. Vorne steht einer, der überträgt. Er dolmetscht nicht. Das hat er nicht gelernt.

Wir Sprachprofi-Statisten
Nach einem Tag in der Buchhaltung und im Drehbuchlektorat habe ich am Abend aus eigenem Interesse eine Autorenlesung besucht — oder ist es eine Vernissage oder die Premiere eines Films? Nicht so wichtig. Wir befinden uns jedenfalls an einem renommierten Berliner Kulturort, und ich bin froh, das neue Kleine Schwarze einweihen zu dürfen.

Der Mann, der vorne steht und überträgt, paraphrasiert und sagt: "Der Redner findet" ... "er denkt" ... "er meint". Profidolmetscher schlüpfen immer in die Haut des Sprechers. Sie sagen "ich", wenn der Redner "je" gesagt hat. Sie verstecken sich hinter den Worten des Hauptredners, indem sie sie wiedergeben. Sie stellen sich in den Dienst der S(pr)ache eines anderen. Oder, um mal in der 1. Person Plural zu sprechen: Wir fungieren als Medium.

Der Mann, der auf der Bühne steht und überträgt, hat es nicht nur nicht gelernt, er fühlt sich vermutlich selbst als Star. Er stellt auch die Fragen, auf die der ausländischer Gast antwortet. Der Fragen- und Wortnachsteller ist seiner Kulturszene ein bekanntes Gesicht - und er lässt gefühlte 40 % weg, darunter alles, was er in der Eile nicht mitbekommen hat. Notizen macht er sich nicht.

Profis nutzen Notizentechnik, um sich Anhaltspunkte aufzuschreiben. Sie müssen nicht parallel schon an die nächste Frage denken oder überspielen, dass ihnen ein Begriff oder ein Nebensatz schwer verständlich vorkam. Sie lassen sich ein auf den Redner, geben nicht nur grob vermittelt den Inhalt wieder, sondern auch die Nuancen, das Sprachniveau und am besten sogar den individuellen Sprachgebrauch.

Dieser Mann, der auf der Bühne überträgt, nimmt sich selbst viel zu wichtig und hat kaum Abstand zu dem, was er tut. Oder fehlt ihm trotz eigener Bedeutung schlicht der Mut? Es könnte sein, dass er sich schlicht nicht traut, "ich" zu übersetzen, wenn der ausländische Gast "je" sagt. Damit bleibt er unverbindlich und distanziert — und verschiebt die Perspektive. Der Star des Abends wird zum Objekt, dabei ist er doch das Subjekt dessen, was hier gesagt wurde.


P.S.: Nicht nur mich hat der Abend mal wieder mittelprächtig schockiert, es kommen gleich drei Kulturarbeiterinnen verschiedener Einrichtungen zu mir und schnappen empört nach Luft. Zwei von ihnen sprechen die beiden Sprachen perfekt. Sie teilen meine Einschätzung der mangelhaften Übertragung. Genervt sind alle drei. Lokale Helden oder solche, die sich dafür halten, können wir nicht mehr ab. Aber wir sind hilflos, zur Statistenrolle verdammt, solange sich das Publikum nicht beschwert. Wir flüstern uns beruhigend zu, ja wenigstens für den Sch... keinen Eintritt bezahlt zu haben, und sichern uns hurtig die pole position am Kalten Buffet.
______________________________  
Foto: C. Elias

2 Kommentare:

G. H. hat gesagt…

Böser Eintrag ... und total richtig. Er zeigt, dass Du als Sprachprofi sogar nach mehr als zehn Jahren noch Mühe hast, für Deine Arbeit anerkannt zu werden, stattdessen bereinigst Du Dateien (Eintrag von heute Morgen). Für welchen Markt bilden eigentlich die überall aus dem Boden schießenden Studiengänge "Medienübersetzung" aus? Hat da einer mal eine Marktanalyse gemacht, bevor die bekanntermaßen im Überfluss vorhandenen Gelder der öffentlichen Hand investiert wurden?
Dir wünsche ich einen erfolgreichen Arbeitstag und schöne Erkenntnisse, die Du gerne weiter hier mit uns teilen darfst. Ich lese Dich sehr gerne! Bis zum nächsten Stammtisch, lieber Gruß, Gabi

caro_berlin hat gesagt…

Bonsoir Gabi,
tja, das mit den Studiengängen weiß ich auch nicht. Die meisten, die im Feld "Film und Sprache" arbeiten, sind ehemalige und aktive Filmmitarbeiter, Autoren, Regisseure, Schauspieler etc. mit privatem bilingualem Hintergrund. Denn den ganzen Filmbereich zu lernen, dauert ja auch mindestens ein halbes Studium lang oder ein Drittel, geht nicht mal eben so neben Spracherwerb in einem oder zwei Masterjahren.

Aber koi Angschd, unterm Strich komme ich sehr gut klar, nur mache ich nicht immer das, worauf ich Lust habe, und fühle mich wie gestern Abend wie eine Komparsin oder wie ein hochgetunter Sportwagen, der über einen Feldweg schleicht ;-)

Schickst Du mir bitte nochmal Deine Mailadresse und Handynummer? Ich hatte alles im Mobiltelefon, das ja den Abgang gemacht hat. Ich hab noch einen Text für Dich ... :-)

Herzlich,
Caroline