Berlin, U-Bahnhof Wittenbergplatz, an einem späten Sonntagvormittag. Als ich am Automaten einen Fahrschein ziehen will, höre ich in meinem Rücken lautes Schimpfen. Am Fahrkartenschalter sind zwei Frauen in einen Streit mit der Verkäuferin verwickelt. Ich messe dem keinerlei Bedeutung für mich bei.
Als ich weggehe, sprechen mich die beiden Frauen an, eine ist in den Dreißigern, eine in den Fünfzigern, beide sind unauffällig geschmackvoll gekleidet. Sie sprechen Englisch mit einem starken russischen Akzent. Sie halten mir einen Geldschein hin und bitten mich, für sie zwei Fahrscheine zu kaufen, weil die Dame hinterm Schalter, des Englischen unkundig, ihnen keine verkaufen wolle. "She went angry", setzt die Ältere hinzu und bemüht sich um einen neutralen Tonfall. Nach kurzer Abfrage der genauen Wünsche gehe ich an den Schalter und kaufe die Tickets. Die Frau hinter der Glasscheibe, eine Frau in den späten Vierzigern, ist sehr einfach gekleidet, sie hat ein aufgeschwemmtes Gesicht und den Gesichtsausdruck eines trotzigen Kindes. Ihre Augen sind wütend und wirken zugleich überfordert und eine Spur weinerlich. Ich übergehe ihre Aufgebrachtheit mit normaler Freundlichkeit.
Als ich mit Fahrscheinen und Wechselgeld zu den Russinnen zurückkehre, sind diese sehr dankbar. Sie entschuldigen sich bei mir in bestem Englisch dafür, kein Deutsch zu sprechen. Ich erkläre meinerseits das enorme gesellschaftliche Problem, das wir in Deutschland haben: Viele Menschen haben Bildungsdefizite, es mangelt an Akademikern. Sie schauen mich ungläubig an. Ich spüre, wie ihr Deutschlandbild ins Wanken gerät.
Und eine Spur zu nett wünsche ich ihnen einen schönen Tag und noch einen angenehmen Aufenthalt in Berlin. Ich finde es schade, dass erst zufällig eine Dolmetscherin vorbeikommen muss, damit ein einfacher Fahrscheinkauf bei der BVG nicht in der Verfestigung von Vorurteilen endet.
________________________
Bild: Die Schalterhalle von A. Grenander
1 Kommentar:
Wie wahr, passiert mir auch immer wieder.
Kommentar veröffentlichen