Montag, 8. November 2010

Mein 9. November

Vor 21 Jahren war ich Studentin — und blutjunge Anfängerin in den Medien. Ich hatte ein Jahr zuvor mein Praktikum beim SFB absolviert, wo ich für die aktuelle Redaktion eingeteilt war, aber mindestens die halbe Zeit ein Stockwerk darunter, in der Feature- und Hörfunkredaktion, verbracht hatte. Im Jahr des Mauerfalls schickte ich dann zunächst Rundfunkbeiträge aus meiner Studienstadt Paris. Und im Herbst fuhr ich dann wieder nach Berlin — zu den Hörspieltagen. Wir saßen tagelang im Literaturhaus in der Fasanenstraße, hörten, diskutierten, stritten. Soweit war alles wie im Vorjahr, nur, dass dieses Mal plötzlich auch die Kollegen vom Rundfunk der DDR dabei waren. Danach aßen wir alle miteinander.

Später am Abend stieg ich mit einer Kollegin ins Auto, wir fuhren gemeinsam nach Kreuzberg, wo ich bei einem Maler untergekommen war. Die Kollegin machte das Radio an — es folgten Beschreibungen von Grenzern, es ging um Passierscheine von Ost nach West und Grenzübergangsstellen. Unsaubere Atmo, schlecht gepegelt, der Text war unglaubwürdig, wir machten dieses Hörspiel aus, hatten genug von Feature, Hörspiel und Co.

Dann schlug ich bei dem Maler auf. Die Wohnung war leer, nur ein Zettel lag auf dem Küchentisch: "Sind am Grenzübergang Heinrich Heine-Straße. Die Mauer ist auf!"

Wie ich dorthin kam oder ob der Maler nochmal zurückkam und was dann geschah, ich weiß es nicht mehr. Filmriss. Ich weiß nur noch, wie ich an der Grenze stehe und weine und lache zugleich. Meine erste große Liebe hatte hinter der Grenze gelebt, als Ost-/West-Kind zähle ich zu den wenigen meiner Generation, die regelmäßig "drüben" waren. Für mich war Deutschland immer eins mit zwei Teilen.

Später war ich noch am Brandenburger Tor, am Tag danach ohne Mindestumtausch bei meiner Cousine Bettina in der Linienstraße. Die waren aber auch grad unterwegs ...

Berlin war euphorisch in diesen Tagen, unglaublich, peinlich, phantastisch und phantasielos zugleich, doch, ja: Wenn so vielen Menschen nach so vielen Jahren der Trennung nur "Wahnsinn!" einfällt, ist das phantasielos! Und die Tatsachen sprengten ja auch zugleich die Grenzen alles bis dato Vorstellbaren. Und ich, die ich meine Pappenheimer hüben und drüben kannte, war euphorisch und hatte zugleich düstere Vorahnung über düstere Vorahnung, kurz: ich fühlte mich plötzlich schrecklich alt.


Es würde lange dauern, bis die verlorene Zeit aufgeholt sein würde, das war mir klar. Die Menschen hatten sehr unterschiedliche Sozialisationen erfahren: im Westen war die größtmögliche Selbstentfaltung möglich — aus östlicher Perspektive die ewige Selbstdarstellerei —, im Osten zählten eher die inneren Werte — aus westlicher Perspektive das ewig Verhuschte ... um nur dieses eine Beispiel zu nennen.

In der Phase des Zusammenwechsens befinden wir uns noch immer. Ohne diese Nacht würde ich heute nicht in Berlin leben, und unter dem Strich überwiegt eindeutig das Positive. Aber mit mehr Bildung, Achtsamkeit, Kultur und Gerechtigkeit wären viele Schäden an Menschen, Seelen und Gütern zu vermeiden gewesen. Ich nenne da nur durch die Wende zerstörte Altstädte oder Altstadtteile durch die gedankenlose Übernahme westdeutscher Baugesetze.

Und so stand ich da mit meinem Wissen in der bewussten Nacht, ein Grünschnabel, der sich im Eiltempo gereift fühlte und sehr einsam inmitten der Menschenmassen. Die Deutschen in Ost und West waren sich fremd geworden in den Jahren der Trennung, und sie hätten Kulturdolmetscher gebraucht, Vermittler oder einfach nur viel, viel Zeit, einander unaufgeregt die jeweilige Geschichte mit den jeweiligen Begriffen zu erzählen. Denn die gemeinsame deutsche Sprache hatte sich auch verändert, zum Teil die Worte, aber vor allem die Art des Argumentierens, die Hierarchien in der Mitteilung, die Fähigkeiten, Zwischentöne zu hören. Die gemeinsame deutsche Sprache, die gemeinsame Geschichte trennte die Deutschen in Ost und West.

In jener Nacht fielen mir als Historikertochter sehr bald auch die anderen neunten November ein und ich wusste, dass Deutschland ein Problem haben würde mit diesem historischen Ereignis. In logischer Folge reihen sich die Termine aneinander, 1918, 23, 38  und 89 — und da den Deutschen das Jubeln doch meist misslingt, hätte ich es angemessen gefunden, den 9.11. zum deutschen Gedenktag zu machen.

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Foto von September 1989,
an der Dresdener Straße (?)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ganz großes Kino. U.

Norbert hat gesagt…

Klasse Text!
Gruß, Norbert
(zur Zeit in MUC)