Sonntag, 7. November 2010

Schwäbischdolmetscherin

Als Dolmetscherin für die französische Sprache bin ich Dialekte gewöhnt. Wenn im Süden Frankreichs von "Wäng" die Rede ist oder der "Träng" verspätet ist, weiß ich, seit ich vierzehn bin: es windet oder es geht um die Eisenbahn. Auch einige andere französische Dialekte verstehe ich und sogar manche Verfärbung durch andere Sprachen, denn oft darf ich Menschen dolmetschen, die zwar gut Französisch können, aber es ist nicht immer das Pariser Hochfranzösisch ...

In deutschen Dialekten bin ich weniger bewandert. Indes, wie letzten Freitag angedeutet, habe ich ein paar Schuljahre im schönen Schwabenlande verbracht — und anfangs vom dort gesprochenen Idiom gar nichts verstanden. Daher habe ich dort mein Hochdeutsch gepflegt und konnte diesen Dialekt am Ende so halbwegs verstehen.

Und jetzt kommt das ebenfalls letzte Woche versprochene kleine Geständnis. Der Zeitpunkt scheint zu passen, so kurz nach den Herbstferien und vor dem Weihnachtsstress, für dessen Bewältigung noch in letzter Minute Sprachmittler gesucht werden, da sind wir hier ja ohnehin unter uns.

Einst habe ich mit Pascal Thibaut, der später RFI-Korrespondent wurde, bei Journalistenfortbildungen gedolmetscht. Die wurden vom CFJ oder der Journalistenschule in Lille organisiert und ein- bis anderthalb Dutzend angehender Kollegen waren eine bis anderthalb Wochen in Berlin auf Recherche, begleitet und betreut von uns. Und auch bedolmetscht, denn die wenigsten sprachen gut Deutsch.

Da liefen wir dann beide zu großer Form auf — und waren am Ende durch diese Doppelbelastung ordentlich geschafft. Einmal schien das K.O. aber schon bei der letzten Begegnung zu erfolgen: Wir waren mit den Studenten in einem Heim für Spätaussiedler zu Gast. Es war in den 1990-er Jahren, hier lebten viele Kontingentflüchtlinge und ihre Familien, außerdem frühere sogenannte Donauschwaben. Der Dorfälteste fing an zu sprechen — und ich fühlte mich in alte Gymnasialtage zurückversetzt oder besser: ins Dorf, denn es war das breiteste Schwäbisch, nicht mal "Honoratiorenschwäbisch".

Pascal, der gerade mit der Verdolmetschung an der Reihe war, schaute mich hilfesuchend an. Je länger der alte Mann sprach, desto größer wurden die Fragezeichen in Pascals Augen, er wies auf seinen Block, auf dem er sich anders als sonst keine Notizen machte, zuckte mit den Achseln, wurde fast panisch ...

Ich indes machte eine beruhigende Geste, verstand ich doch alles. So übernahm ich flugs die Tour, skribbelte mit, notierte, schrieb auch einen Begriff in Druckbuchstaben auf, den ich nicht verstand und kurz nachfragte, bevor ich dann das Gesagte ins Französische übertrug. Pascals Augen strahlten. Ich war zufrieden, weil sich meine mühevoll erworbenen Fremdsprachenkenntnisse des südwestdeutschen Dialekts endlich mal in einem beruflichen Zusammenhang als nützlich erwiesen hatten.

Was ich nicht ahnte: mein Triumph war verfrüht. Jetzt sprachen erstmal die Franzosen, Pascal machte sich Notizen, dann fing er an. Er sprach und spricht hervorragend Deutsch — mit einem süßen französischen Akzent. Der alte Mann schaute erst Pascal an, dann mich, schüttelte den Kopf, Pascal sprach konzentriert und unbeirrt weiter, dann sah mich der Redner von eben wieder an. Jetzt sah ich es wieder, diesen Anflug von Panik, dem diese kleinen Fragezeichen vorausgehen. Der alte Mann schien nichts zu verstehen — und das sagte er jetzt auch.

Zum Glück schien Pascal nicht gekränkt, er überlies mir das Feld. Ich setzte also nochmal an, als Muttersprachlerin mit Sprechausbildung, stolz auf meine Rundfunkstimme und mein Vorzeigedeutsch. Ich wiederholte das Gesagte, konzentrierte mich auf meine Worte, mein Blick ging nach innen ... bis es um mich herum unruhig wurde. Räuspern, Scharren mit den Füßen — als ich aufblickte, sah ich in eindeutig irritierte Augen. Und war selbst irritiert, Hilfe, mein Deutsch wird nicht verstanden!

Gerade lief die Verständigung noch für mich problemlos, als der Dorfälteste Schwäbisch gesprochen hatte oder vielmehr ein Schwäbisch aus dem gefühlten 18. Jahrhundert, als viele Armeleutekinder aus Schwaben ihr Glück im Osten versucht und dort seither nur so und nicht anders Deutsch gesprochen hatten. Vor der Ausreise ins wiedervereinigte Deutschland hatte dieses Idiom durch andere Sprachkontakte mit dem Deutschen keinerlei Erschütterung erfahren; es war die Zeit, bevor Internet und TV-Satellitenschüsseln populär wurden. Kurz: In dieser Gruppe hatte sich eine Variante des Deutschen gehalten, ja war von den Sprechenden sogar für das einzige, echte Deutsch gehalten, das der Sprache von anno dunnemals näher war als unser modernes Idiom.

Dann tat ich, was seither zum Glück in meiner Karriere nie mehr nötig wurde. Ich sammelte all' meinen Mut, schaute mich um, ob noch andere Deutschsprachige im Raum wären, vielleicht sogar echte Schwaben, das war aber zum Glück nicht der Fall. Und dann versuchte ich mich an den schwäbischen Endungen, dem kollektiven, duzenden "Sie" und all den Verformungen, die dieser Dialekt nun mal mit dem Hochdeutschen anstellt, so gut es mir aus der Erinnerung nach einem Jahrzehnt möglich war. Ich schlüpfte im Geiste in die Haut von Fips oder anderen Mitschülern vom Dorfe und wunderte mich über das, was da so scheinbar mühelos aus meinem Mund purzelte.

Die Augen des alten Mannes strahlten. Auch Pascal war begeistert. Es wurde ein schönes, sehr lebendiges Gespräch. Am Ende war ich müde wie selten zuvor.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Klasse! Bis nachher am Telefon! Tschüssle, Anna ... noch ohne OpenID oder so'n Kram, aber nicht anonym!