Samstag, 5. Juli 2025

Verhältnismäßigkeit

Hel­lo, bon­jour, gu­ten Tag! Als Dol­met­sche­rin für die fran­zö­si­sche Spra­che mit Deutsch als Mut­ter­spra­che blog­ge ich hier seit 2007. Ich dol­met­sche auch En­g­li­sch → Fran­zö­sisch, und ich über­set­ze nur in die deut­sche Spra­che. Am Wo­chen­en­de wer­de ich pri­vat. Nein: wür­de ich ger­ne, denn das Pri­va­te ist po­li­tisch. Mei­ne Links der Wo­che.

Es war ein­mal ei­ne Kas­sie­re­rin in Ber­lin, die be­ging ei­nen un­glaub­li­chen Be­trug. Sie lös­te zwei Leer­gut­bons ein, die ihr nicht ge­hört ha­ben. Es ging um Pfand­geld in der Hö­he von 48 und 82 ... Cent. Das war 2009, der Fall ging durch die Pres­se. 

An die Wand gesprayt: MÜDE
Kom­men­tar des Tages, am We­ges­rand
Sie wur­de ent­las­sen. Das Ver­trau­ens­ver­hält­nis sei gründ­lich zer­rüt­tet, so ihr Ar­beit­ge­ber. Der un­ter dem Na­men Em­me­ly be­kannt ge­wor­de­ne Fall ging vor Ge­richt. Zweit­in­stanz­lich hat die Da­me ih­ren Pro­zess ge­won­nen, konn­te ih­ren Sieg trotz­dem nicht lan­ge ge­nie­ßen: Sie starb we­ni­ge Jahre spä­ter mit nur 57 Jah­ren. Ar­me Men­schen ster­ben frü­her. Der Fall gilt als Mus­ter­bei­spiel für so­ge­nann­te Ba­ga­tell­kün­di­gun­gen.

2021, ein an­de­res Pres­se­rau­schen: Ein am­tie­ren­der Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter leis­tet sich in der Hoch­pha­se der Pan­de­mie und oh­ne aus­rei­chen­des Ei­gen­ka­pi­tal ei­ne mil­lio­nenschweren Vil­la. Die Her­kunft der Mit­tel blieb bis heu­te un­ge­klärt. Au­ßer­dem un­ter­lie­fen ihm „hand­werk­li­che Feh­ler“ beim Ein­kauf von me­di­zi­ni­scher Schutz­aus­rüs­tung.

In­zwi­schen ken­nen wir mehr De­tails zum Mas­ken­ska­n­dal. Über­men­gen auch nach­weis­lich schlech­ter Wa­ren wur­den trotz War­nun­gen von ihm per­sön­lich auch im ei­ge­nen Um­feld be­stellt, ei­ne Po­li­ti­ker­toch­ter be­kam für ei­ni­ge Te­le­fo­na­te mehr als 48 Mil­lio­nen Eu­ro „Prämie“, an­de­re Lie­fe­ran­ten wur­den zu­rück­ge­pfif­fen. Der Ge­samt­scha­den ist we­gen lau­fen­der Pro­zes­se noch nicht be­zif­fer­bar, sechs Mil­li­ar­den sind be­stä­tigt, es könn­te zwei­stel­lig wer­den. (Hier der un­ge­schwärz­te Be­richt bei Frag­Den­Staat.)

Kon­se­quen­zen gab es kaum. Der Mi­nis­ter blieb im Amt und hat an­schlie­ßend wei­ter Kar­rie­re ge­macht.

Nur ei­ne knap­pe Vier­tel­mil­li­ar­de Scha­den lös­te 2019 ei­ner sei­ner Par­tei­kol­le­gen aus, als er trotz War­nun­gen, die auch ein Erst­se­mes­ter im Ju­ra­stu­di­um hät­te ge­ben kön­nen, ei­nen Maut­ver­trag un­ter­schrieb, und das, ob­wohl da­zu auch ein Ver­fah­ren vor dem Eu­ro­pä­i­schen Ge­richts­hof lief. Auch hier: kein Kar­rie­re­knick.

Al­le ken­nen die Na­men die­ser Her­ren. Im Lich­te die­ser Er­eig­nis­se ir­ri­tie­ren an­de­re Fehl­grif­fe: Ein Vi­ze­kanz­ler gab sein Amt auf, weil er auf of­fi­zi­el­lem Brief­pa­pier für die Ein­kaufs­wa­gen­chips ei­nes Ver­wand­ten warb (Jür­gen Möl­le­mann, 1993). Ein Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter trat zu­rück, weil er dienst­lich ge­samm­el­te Bo­nus­mei­len pri­vat ge­nutzt hat (Cem Öz­de­mir, 2002). An­de­re Po­li­ti­ker sind we­gen der Pri­vat­nut­zung von Dienst­wa­gen oder der Flug­be­reit­schaft der Luft­waf­fe zu­rück­ge­tre­ten.

Sprin­gen wir wie­der in die Pan­de­mie­zeit zu­rück. Ich bin frei­be­ruf­li­che Kon­fe­renz­dol­met­sche­rin. Als we­gen Co­vid-19 al­les still­stand, war ich über Mo­na­te fak­tisch ar­beits­los, auch au­ßer­halb der Lock­down­pha­sen, weil kei­ne Pla­nungs­si­cher­heit da war. Kon­fe­ren­zen und De­le­ga­tions­rei­sen fie­len aus, Prä­senz­ter­mi­ne wur­den ab­ge­sagt. Mei­ne Haupt­auf­trag­ge­ber, Mi­nis­te­ri­en, For­schungs­ein­rich­tun­gen, Par­la­men­te, blie­ben for­mal ge­öff­net. Und ge­nau des­halb be­kam ich (nach ei­nem ers­ten „Schlag aus der Gu­lasch­ka­no­ne“) kei­ne Hil­fen. Am Te­le­fon er­klär­te mir ein Sach­be­ar­bei­ter der KfW in gön­ner­haf­tem Ton: „Ih­re Auf­trag­ge­ber haben nicht pan­de­mie­be­dingt ge­schlos­sen.“ Das war sach­lich kor­rekt, aber prak­tisch zy­nisch.

Ich konn­te mich glück­lich schät­zen, denn die Erst­hil­fe­zah­lun­gen hat­te ich ja be­kom­men. Sie haben ei­ni­gen Eu­ro täg­lich entsprochen, mit dem ich mein Bü­ro wei­ter­un­ter­hal­ten, die schon be­stel­le Mo­der­ni­sie­rung und die da­mit zu­sam­men­hän­gen­den lau­fen­den Kos­ten bezah­len konn­te. Für den Ei­gen­be­darf (woh­nen, es­sen, ver­si­chern, ...) durf­te ich an mei­ne Rück­la­gen fürs Al­ter ge­hen, denn ge­nau die­se ha­ben mich „reich“ ge­macht.

Ich soll­te, so der KfW-Mann, al­les bis auf 60.000 Eu­ro „ab­schmel­zen“ (als wür­de es sich hier um ei­nen na­tür­li­chen Vor­gang han­deln); dann könn­te auch ich Un­ter­stüt­zung be­kom­men. In an­de­ren Wor­ten: Aus mei­nen Al­ters­rück­la­gen wur­den mir für ca. 20 „Er­lebens­jah­re“ im Ren­ten­al­ter mo­nat­lich 250 Eu­ro zu­ge­stan­den. Ein Witz. Ich war nicht al­lein, muss­te im­pro­vi­sie­ren, wie im­mer.

Ich hat­te und ha­be Glück im Un­glück. Da ich im fünf­ten Jahr in Teil­zeit An­ge­hö­ri­gen pfle­ge, kom­me ich bis heu­te nicht wirk­lich da­zu, das al­les zu durch­den­ken. Im­mer, wenn ich zur Ru­he kom­me, spü­re ich die Ris­se.

Die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ist ver­lo­ren­ge­gan­gen. Grund­sätz­lich soll­ten Po­li­ti­ker ehr­lich sein, das Bes­te für die Be­völ­ke­rung an­stre­ben, und grund­sätz­lich soll­ten wir auch Men­schen in Not hel­fen: Leu­ten im Land, die kaum über die Run­den kom­men, Men­schen au­ßer­halb der Gren­zen. Die ak­tu­el­le Re­gie­rung streicht die Mit­tel bei der Hoch­see­ret­tung im Mit­tel­meer und wür­de am liebs­ten ein ei­ser­nes Tor an der Lan­des­gren­zen hoch­zie­hen, um Ge­flüch­te­te ab­zu­hal­ten, die es zu­hau­se nicht mehr aus­hal­ten, weil dort Krieg, Bür­ger­krieg, Ver­fol­gung, Hun­ger herr­schen.

Es wer­den der­zeit Men­schen ab­ge­schoben, die bei Nacht und Ne­bel aus ih­ren Bet­ten oder von den Schul­bän­ken ge­holt wer­den. Da­run­ter sind auch Leu­te, die im Ge­sund­heits- und Pfle­ge­be­reich tä­tig sind. An­de­re wür­den ger­ne ar­bei­ten, dür­fen aber nicht. Wä­ren nicht zu vie­le Pfle­ge­ein­rich­tun­gen so grau­en­voll, hät­ten wir un­se­re Care-Ar­beit ver­mut­lich schon ab­ge­ge­ben, denn mich als ei­ne der Haupt­ver­ant­wort­li­chen schränkt die La­ge be­ruf­lich ein. So fällt es mir schwer, das den Al­ters­rück­la­gen ent­nom­me­ne Geld wie­der auf­zu­fül­len.

Die Deut­schen wür­den zu we­nig ar­bei­ten, schilt uns zu­gleich die Po­li­tik. Ich neh­me das als kol­lek­ti­ve Ohr­fei­ge wahr. Und ich bin ge­neigt, das Gan­ze lang­sam per­sön­lich zu neh­men. Mein Ver­trau­ens­ver­hält­nis zu man­chen Po­li­ti­kern ist gründ­lich zer­rüt­tet.

Nicht nur ich ha­be die­se mas­siv­en Stör­ge­füh­le. Das Gan­ze ist Was­ser auf die Müh­len je­ner, die mit den Ach­seln zu­cken und sa­gen: „Die da oben ma­chen doch so­wie­so, was sie wol­len.“ So den­ken in­zwi­schen nicht nur die Em­me­lys die­ser Welt, ich er­in­ne­re, die Da­me mit den Pfand­bons, son­dern auch ver­meint­lich ar­ri­vier­te Krei­se. Kurz: Im Land dro­hen bald ex­tre­mis­tische Mehr­hei­ten, oder die Macht­über­nah­me von Po­li­ti­kern mit ex­tre­men An­sich­ten in­ner­halb bür­ger­li­cher Par­tei­en, sie­he USA.

Das darf, nein, das muss uns ei­ne War­nung sein. Ei­ne sehr lau­te.

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Fo­to: C.E. (ge­se­hen in Neu­kölln)

1 Kommentar:

H. Weber hat gesagt…

Liebe Frau Elias, vor Jahren durfte ich Sie in der Akademie der Wissenschaften live erleben und war schwer beeindruckt von der Souveränität, mit der Sie kurzfristig einen dreisprachigen Abend alleine gemeistert haben. Für den Herbst habe ich Sie heute ein Kostenangebot gebeten, möchte aber hier auch noch einen Kommentar hinterlassen.

Es ist gut, dass sich ein Vollprofi wie Sie nicht vom Markt verdrängen lässt! Hut ab, wie Sie sich da durchgekämpft haben.
Veranstaltern wir uns war das Dilemma gar nicht sofort klar. Wir haben dann später die Honoraranteile, die wir fälschlicherweise als Gesamtumsatz behalten durften, abzüglich des Steueranteils weitergeleitet.

Der Umgang mit Geld in der Pandemiezeit hat das Vertrauen in die Demokratie vieler erschüttert: Manche Freiberufler bekamen kaum Unterstützung, und dann oft sogar nur als zinsloser Kredit, während andere (wie zum Beispiel Galerien Galerien) nichts zurückzahlen mussten. Die Vergabe- und Rückforderungskriterien waren intransparent. Hier wäre auch ein Untersuchungsausschus nötig.

Sehr dringend muss zunächst Spahns freihändige Vergabe von Milliardenaufträgen an ihm persönlich bekannte Firmen hinterfragt werden. Auch, wie viel wo als "Vermittlungspovision" hängengeblieben ist.

Natürlich wurden in der Zeit viele Fehler gemacht. Viele können, ja müssen wir verzeihen. Aber keine Handlungen, die in den Bereich der Korruption gehen.

Hier muss Verantwortung übernommen, müssen Konsequenzen gezogen werden. Sonst sind Fälle wie dieser Wasser auf den Mühlen derjenigen, die die Demoktratie abschaffen möchten, gerne in vier Jahren mit den Spahns dieser Welt als Mehrheitenbeschaffer. Das aktuelle Herumlavieren ist verherrend, zeigt es doch allen, dass Regeln und Gesetze nur für die Wahlbürger zu gelten scheinen, nicht für die Gewählten!