Mittwoch, 16. Juli 2025

Drei Mal nichts

Bien­ve­nue auf den Sei­ten einer Sprach­ar­bei­te­rin. Seit 2007 be­rich­te ich hier in lo­ser Fol­ge über das Ar­beits­le­ben von Über­set­ze­rin­nen, Über­set­zern, Dol­met­scher­in­nen und Dol­met­schern. Mei­ne Spra­chen sind Fran­zö­sisch, Eng­lisch und na­tür­lich auch Deutsch, mei­ne Mut­ter­spra­che. Es gibt Ta­ge, da kom­me ich aus dem Kopf­schüt­teln nicht her­aus.

Hahn mit zwei Köpfen
Nichts Hal­bes und nichts Gan­zes
Im Ja­nu­ar wur­de ich von ei­nem mit­tel­stän­di­schen Un­ter­neh­men aus Frank­reich an­ge­fragt, das sei­ne au­to­ma­tisch über­setz­te Web­site samt Web­shop ver­bes­sern las­sen woll­te. Kein Auf­wand schien das in den Au­gen je­ner, die kein Deutsch kön­nen. Al­so frag­te die po­ten­ti­el­le Kun­din: „Könn­ten Sie bit­te mal kurz auf die Web­sei­te schau­en? Das geht schnell, dau­ert nur ei­ni­ge Mi­nu­ten!“ (Pourriez-vous jeter un œil au site web, s'il vous plaît ? Ça sera rapide, en un rien de temps !)

En un rien de temps
Die­se fran­zö­si­sche Re­de­wen­dung setzt auf Kür­ze, hier wird „in ei­ner Nicht­zeit“ die Schnel­lig­keit be­tont, auf Deutsch: „im Nu“, „ganz fix“.

Ich at­me­te ein­mal tief durch und er­klär­te mit der Ge­duld, mit der ich zu ei­nem bock­i­gen Nicht­lein spre­che, dass die­ses Zeug­nis der Qua­li­tät au­to­ma­ti­sier­ter Über­tra­gung vor­schnell sei, dass das Er­geb­nis vom Aus­gangs­text ab­hänge, dass in den sehr vie­len Fäl­len ei­ne Über­ar­bei­tung mit pro­fes­sio­nel­len Kri­te­ri­en ge­nau­so viel Zeit in An­spruch neh­men dürf­te wie ei­ne Neu­über­set­zung, schlimm­sten­falls so­gar mehr. Lan­ger Satz. So hab ich es nicht ge­sagt. Aber in kur­zen Ein­hei­ten eben dann doch.

Das Ge­gen­über setz­te zu ei­ner gro­ßen Ver­tei­di­gung des Aus­wurf die­ser Bits & Boons an, als wür­den wir über Kunst­wer­ke aus der Hand ih­rer Kin­der spre­chen, die sie Fach­leu­ten an­preist. Dann kam der wun­der­ba­re Satz: „Könn­ten Sie nicht Ih­ren Pro­fes­sio­na­lis­mus ein we­nig ab­le­gen und al­les kurz ein­mal glatt­bü­geln?!" Der Satz meint: bit­te güns­tig! Es ging um Mo­ney over Me­rit.

Bits & Boons
... statt Bits & Bytes: „Boon“ kann im Eng­lisch so­wohl „Se­gen“ als auch „Glücks­fall“ oder „un­er­war­te­te Wohl­tat“ be­deu­ten. In der Alt­eng­li­schen Spra­che wur­de es oft ver­wen­det, um et­was Po­si­ti­ves zu be­schrei­ben, das durch Zu­fall oder Glück ge­schah.  

Mo­ney over me­rit
Wem das Wort merit nichts sagt, der oder dem sa­gen die „Me­ri­ten“ viel­leicht et­was, die es mit lan­gem Stu­di­um, Ver­zicht und dar­aus re­sul­tie­ren­der Ex­zel­lenz zu ge­win­nen gilt. „Merit“ wur­de auf Mit­tel­eng­lisch ver­wen­det, um die Gü­te oder den Wert ei­ner Sa­che oder Per­son zu be­schrei­ben. In neue­rer Zeit ist der Be­griff Merit Order oft in den Me­di­en. Hier geht es (lei­der) nicht um ein Ord­nungs­sys­tem, in dem die Klügs­ten das Sa­gen ha­ben. Merit Order ist ein fest­ste­hen­der Be­griff, der die Rei­hen­fol­ge fest­legt, in der Kraft­wer­ke ih­ren Strom auf dem En­er­gie­markt an­bie­ten, ba­sie­rend auf ih­ren „Grenz­kos­ten“.

Kraft­wer­ke mit nied­ri­gen Grenz­kos­ten wie er­neu­er­ba­re En­er­gi­en wer­den zu­erst ein­ge­setzt, wäh­rend teu­re­re Kraft­wer­ke (z.B. Gas­kraft­wer­ke) erst spä­ter hin­zu­kom­men, um den Be­darf zu de­cken. Als Preis für al­les wird das über­nom­men, was der Strom aus dem teu­ers­ten Kraft­werk kos­tet, das zur De­ckung des Ge­samt­be­darfs be­nö­tigt wird. En­de der De­fi­ni­ti­on. Das Ver­fah­ren ver­zerrt den Preis, denn es geht von ei­nem idea­len, funk­tio­nie­ren­den Markt aus.
Ein­schub­en­de.

Um Money over Merit geht es al­so. Ich ru­fe die Web­sei­ten­bau­stel­le der po­ten­ti­el­len Kun­din auf: An­stel­le ei­ner lo­gi­schen Ab­fol­ge von Ge­dan­ken und Ide­en, von fach­lich und sach­lich rich­ti­gen Be­schrei­bun­gen, fin­de ich nur ein sprach­li­ches Trüm­mer­feld vor. Stel­len Sie sich ein Au­to vor, dass als 3-D-Col­la­ge aus ver­schie­de­nen Bau­tei­len zu­sam­men­ge­setzt wur­de, aus ei­ni­gen ech­ten Au­to­tei­len von Schrott­wa­gen, aber auch Bier­kis­ten, Fens­ter­tü­ren, ei­nem Ret­tungs­ring aus Sty­pro­por an­stel­le des lin­ken Vor­der­rads, dem Mo­tor ei­ner Kü­chen­ma­schi­ne un­ter der „Hau­be“. So ein Ge­fährt ist nicht TÜV-taug­lich. Von die­ser Qua­li­tät wa­ren die Sät­ze.

Seit ChatGPT & Co. auf dem Markt sind, ha­ben wir re­gel­mä­ßig sol­che An­fra­gen. Die po­ten­ti­el­le Kun­din ist nur be­dingt schuld, es ist viel­mehr die „Geiz-ist-Geil“-Men­ta­li­tät, die vie­le Köp­fe ver­gif­tet hat und die In­fla­ti­on, die al­le er­mu­tigt, neu­es Ein­spar­po­ten­zi­al aus­zu­lo­ten. Und schließ­lich sind es die KI-Nerds mit ih­ren Wer­be­ab­tei­lun­gen (oder Bil­lig­agen­tu­ren), die die Il­lu­sion be­för­dern, dass ech­te, um­fang­rei­che Pro­fi­ar­beit für 'nen Ap­pel und 'n Ei zu ha­ben sei. 

Sprung zu­rück in den Ja­nu­ar: Na­tür­lich hat­te ich die Da­me über die­se Fall­stri­cke auf­ge­klärt. Sie hat sich be­dankt und schien wirk­lich be­müht. Mein An­ge­bot zur Neu­über­set­zung war sehr fair. Der Win­ter war ruhig, es gab zu vie­le frei­e Stun­den und Aben­de ne­ben der An­ge­hö­ri­gen­pfle­ge. Kaum hat­te ich die Mail ab­ge­schickt, ka­men mir Zwei­fel: War ich zu güns­tig?

Aber un­be­grün­det: Nach ei­ner Wo­che dann die Ab­sa­ge, es ha­be sich ei­ne „wirt­schaft­lich in­te­res­san­te Lö­sung“ ge­fun­den, schrieb sie.

Sur­prise, sur­pri­se
Heu­te schau­e ich mal auf die Web­sei­te der Nicht­kun­din. Und, ta­daaa!, es ist schlim­mer als ich be­fürch­tet hat­te: Der kom­plet­te Murks ist jetzt öf­fent­lich zu­gäng­lich. Ich fin­de im An­ge­bots­dos­sier noch die Word-Da­tei, die ich für das Zäh­len der An­schlä­ge er­stellt hat­te, über­flie­ge al­les, se­he kaum Un­ter­schie­de zum KI-Aus­wurf aus dem Ja­nu­ar. Ich weiß nicht, wer da wo "tä­tig" ge­we­sen sein soll. Bei nä­he­rem Hin­le­sen ist hier ein Sy­no­nym er­setzt, sind dort drei kar­ge Sätz­lein zu ei­ner lan­gen Aus­sa­ge ge­kop­pelt wor­den, ein gu­tes Dut­zend Ge­dan­ken­stri­che ge­stri­chen und zwei Mal „weiß“ durch „hell“ er­setzt wor­den, sol­che Sa­chen. Man­che Be­schrei­bung steht wei­ter­hin un­be­rührt da in ih­rer Trüm­mer­haf­tig­keit, wie ein Mahn­mal für au­to­ma­ti­sier­tes Bull­shit-Bin­go.

Für ihr un rien de temps, „ein Nichts an Zeit­auf­wand“, wird die Da­me wohl „drei Mal nichts“ be­zahlt ha­ben, trois fois rien. 

Ei­nen gro­ßen Un­ter­schied al­ler­dings dürf­te der Um­satz ma­chen. Noch lässt sich al­les auf die Kri­se schie­ben, auch in Frank­reich. Schrei­be ich der Da­me, sa­ge ich es ihr?

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Foto: pixlr.com (Zu­falls­fund)

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